Bisweilen, wenn es um den modernen Stand der Naturgesetze oder um die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis geht, kommt die Rede auf die Quantentheorie. Dann gehen die "Unschärfen" und "Unbestimmtheiten" um, es wird von Teilchen gesprochen, deren Ort man nicht genau kennt, und es ist nicht ganz klar, was man sich darunter am Besten vorstellen soll. Insbesondere stellt sich das Problem, was eine Messung eigentlich ist und zu welcher Art von Wissenszuwachs sie führt. Interessanterweise kann der im vorigen Anschnitt besprochene Satz von Bayes helfen, die Logik, die diesen Begriffen zugrunde liegt, zu verstehen. Wir werden im Folgenden weder die Gesetze der Quantentheorie im Detail wiedergeben, noch sie zu begründen oder zu motivieren versuchen. Statt dessen werden wir einen ihrer wesentlichen Grundzüge beschreiben. Jedes physikalische System besitzt gewisse Messgrößen (Observablen). Wir ignorieren zwei Raumdimensionen und beschränken uns auf ein Teilchen, d.h. auf ein punktförmiges Objekt. Wir können dabei etwa an ein Elementarteilchen denken, das durch eine Kraft in einem bestimmten Raumgebiet festgehalten wird - daher nennen wir unser System ein eindimensionales Atom. Weiters nehmen wir an, dass es stationär ist, d.h. dass keine seiner physikalischen Eigenschaften von der Zeit abhängt. Und schließlich nehmen wir der Einfachheit halber an, dass der Ort die einzige Observable unseres Systems ist. Weiters gibt es den Begriff des physikalischen Zustands eines Systems. In der klassischen Mechanik verstehen wir darunter eine vollständige Angabe der Werte aller Observablen - im Fall unseres eindimensionalen Teilchensystems wäre das die Angabe des Ortes, also einer reellen Zahl.
In der Quantentheorie hingegen sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. Ein Quantenzustand (oder eine Wellenfunktion) ist eine Vorschrift, die jeder Observablen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung zuordnet. (Im Fall des Ortes sprechen wir einfach von der Ortsverteilung). Wird eine Observable gemessen, so ist das Resultat ein Zufallswert, der aufgrund der entsprechenden Wahrscheinlichkeitsverteilung zustande kommt. (Vor der Messung ist der Wert der Observable nicht etwa unbekannt, sondern unbestimmt!)
Wir machen nun eine weitere Vereinfachung, indem wir diese Wahrscheinlichkeitsverteilungen mit den Zuständen identifizieren.
Hier sind vier typische Zustände für unser eindimensionales Atom dargestellt:
Wir nennen sie
r2,
r3,
r4
und r5,
da ihre Peaks (Erwartungswerte) bei x = 2,
3,
4
und 5
liegen. Ist beispielsweise unser System im Zustand r2,
so wird bei einer Ortsmessung ein Wert x
gemäß der Verteilung r2(x)
"gewürfelt". Danach ist das System nicht mehr im Zustand
r2,
d.h. die bisherige Wahrscheinlichkeitsverteilung ist hinfällig
(in der Praxis ist das System dann oft zerstört). Wir könnten
uns dann eine zweite Kopie des System besorgen ("präparieren"),
die ebenfalls im Zustand r2
ist, und wieder eine Messung durchführen. Die auf diese Weise nach
vielen Messungen erhaltenen Daten werden sich ungefähr gemäß
der Funktion r2(x)
über die
x-Achse verteilen (und zwar umso genauer, je mehr
Messungen gemacht wurden). So
weit, so gut.
Was wir bisher besprochen haben, entspricht einer Situation, in der ein bekannter Zustand vorliegt und eine Voraussage über eine zukünftige Messung gemacht wird. Messungen dieser Art dienen nicht dazu, Information über das System zu gewinnen, sondern die Theorie zu überprüfen, Naturkonstanten zu messen oder Ähnliches. Das ist in vielen Fällen genau das, was man braucht, aber nicht immer - denn manchmal hat man es mit einem physikalischen System zu tun, dessen Zustand nicht von vornherein bekannt ist.
In der klassischen Mechanik ist die Lage klar: Messungen sind dazu da, um den Zustand eines Systems festzustellen. Auch wenn jede Messung das gemessene Objekt beeinflusst, kann diese Wirkung im Prinzip beliebig klein gehalten werden. Für ein eindimensionales Atom ist das Messergebnis idealerweise eine reelle Zahl, die den Ort und daher den Zustand des Systems angibt. Was aber stellt eine Messung an einem Quantensystem eigentlich fest? Wenden wir die oben skizzierte Theorie auf ein eindimensionales Atom an: Das System befindet sich in einem Zustand, den wir nicht kennen. Das Messergebnis ist eine Zufallszahl, die von einem Prozess herrührt, den wir nicht kennen. Das ist ein klarer Fall für den Satz von Bayes! Vereinfachen wir die Situation, indem wir annehmen, dass das System in einem der vier oben dargestellten Zustände r2, r3, r4 oder r5 ist. Wenn die Messung das Ergebnis x liefert, so können wir zunächst einmal nachrechnen, für welches j (2, 3, 4 oder 5) die Zahl rj(x) am größten ist. Dann ist rj sicher ein Kandidat für den gesuchten Zustand, da in ihm die Wahrscheinlichkeit, x (genauer: einen Wert in einem kleinen Intervall um x) zu erhalten, am größten ist. Wie sicher ist diese Prognose? Logisch betrachtet, stehen wir vor einem Problem, das dem Münze-Würfel-Spiel des vorigen Abschnitts entspricht: Für eine Quantifizierung der Genauigkeit, mit der aus einem Messwert auf einen Zustand geschlossen werden kann, sind Apriori-Wahrscheinlichkeiten vonnöten. Können wir gemäß unserem Kenntnisstand keinen der vier Zustände bevorzugen, so bleibt nichts anderes übrig, als allen die gleiche Apriori-Wahrscheinlichkeit von 1/4 zuzuordnen. Entscheiden wir uns also für irgendwelche Apriori-Wahrscheinlichkeiten und nennen sie Pj, und ist x das Messergebnis, so ist gemäß dem Baysschen Satz die Wahrscheinlichkeit, dass das System im Zustand rj war, durch
gegeben, wobei c so gewählt wird, dass p2 + p3 + p4 + p5 = 1 ist. Wir kommen also zu dem Schluss, dass Messungen an Quantensystemen zwar den Kenntnisstand über den Zustand eines Systems vermehren, diesen aber - im Unterschied zur klassischen Mechanik - nicht eindeutig bestimmen! Haben wir eine Maschine zur Verfügung, die Systeme in immer dem gleichen (zunächst unbekannten) Zustand produziert, so können wir durch genügend lange Messreihen beliebig genau herausfinden, um welchen es sich handelt. Je größer die Zahl der Messungen ist, umso weniger wird es auf die Apriori-Wahrscheinlichkeiten ankommen. Haben wir es hingegen mit einem Prozess zu tun, der alle vier Zustände erzeugen kann, und zwar mit Wahrscheinlichkeiten Pj, so ist (1) das Beste, was wir erreichen können!
Die Quantentheorie plagt die Menschen also mit zweierlei Unsicherheit:
Punkt 1 ist die wirklich fundamentale Neuerung, die die Quantentheorie in unser Bild von der Natur eingeführt hat. Problem 2 ergibt sich als Konsequenz daraus. Es wird in der Praxis dadurch abgemildert, dass ein Quantenzustand, der in vielen (identischen) Kopien eines Systems realisiert ist, im Prinzip beliebig genau bestimmt werden kann.
Aus theoretischen wie praktischen Gründen treten Gauß-Funktionen oft als Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf. Ein nicht untypisches Setting des Problems der Zustandbestimmung könnte so aussehen: Ein Quantensystem sei durch eine Ortsverteilung des Typs
charakterisiert, wobei die Standardabweichung (Schwankung, Breite, Ortsunsicherheit) s bekannt, der Mittelwert a aber nur ungefähr bekannt ist: Er entspringt einem Zufallsprozess mit Normalverteilung um den Mittelwert 0 mit (bekannter) Standardabweichung d:
Das entspricht etwa der Erwartung, dass der Mittelwert a der Ortsverteilung (2) eigentlich 0 sein sollte, aber aufgrund unkontrollierbarer Vorgänge im experimentellen Aufbau einen gewissen Spielraum besitzt, von 0 abzuweichen. Nun wird ein solcher Zustand erzeugt, und eine Ortsmessung ergibt den Wert x. Welche Wahrscheinlichkeitsaussagen lassen sich über den Zustand machen? Wir setzen der Einfachheit halber s = d = 1. Gemäß dem Satz von Bayes (in einer offensichtlichen Adaptierung auf den Fall einer Apriori-Wahrscheinlichkeitsdichte) ist die Verteilung für die Größe a durch
gegeben, wobei die Konstante c so gewählt wird, dass das Integral über p(a) gleich 1 ist. Einige kleinere Umformungen und eine uneigentliche Integration ergeben
Der wahrscheinlichste Wert für a ist daher x/2 (und nicht x, wie vielleicht intuitiv vermutet), die Schwankung ist mit 2-1/2 jedoch fast so groß wie die quantenmechanische Ortsunsicherheit s, die wir 1 gesetzt haben. Übungsaufgabe: Rechnen Sie dieses Beispiel mit allgemeinen Werten von s und d durch! Das Ergebnis sollte sein: p(a) = Gaußverteilung mit Mittelwert d2 x/(d2 + s2) und Schwankung d s (d2 + s2)-1/2 . Was bedeutet das für die Genauigkeit der Zustandsbestimmung, wenn d viel größer (kleiner) als s ist? |
¬ Der Bayessche Satz der Wahrscheinlichkeitsrechnung |
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