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Die neuzeitliche Wissenschaft enstammt dem cartesianischen Geist: d.h. Klarheit und Ordnung, Eindeutigkeit und Ernsthaftigkeit sowie ein
von der ganzheitlichen Betrachung unterschiedenes, schrittweises Vorgehen determinieren den Forschungsprozeß. Es ist diese
methodische Disziplinierung, die laut René Descartes (1596-1650) nicht nur den subjektiven Verstand kultivieren
hilft, sondern durch Reflexion über systematische Begründungsmöglichkeiten im Wissensprozeß eine Objektivität erzeugt,
die -- selbst aus dem systematischen Zweifel geboren -- jeglichen Zweifel eliminieren soll.
Zu dieser Programmatik gehört das Festlegen allgemein verbindlicher, ‘vernünftiger’ Maßeinheiten als rekonstruierbare Determinanten des
Wissenschaftsdiskurses. Im Prozeß einer methodischen Konzentration auf das Meßbare dekontextualisiert sich wissenschaftliche Theorie
zunehmend von ihren Anwendungszusammenhängen und schafft sich neben dem Problem des Werkzeugs damit auch ein Problem der normativen
Grundlagen: da sich die kommunikative Einheit des traditionellen Weltbildes im Zeitalter der Emanzipation des Bürgertums von
traditionell verbürgten Mustern oder natürlichen Gegebenheiten auflöst, entsteht eine in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen
spürbar werdende Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Theorie und sozialer Praxis.
Kennzeichen der Moderne daran ist, daß der erkenntnistheoretische Beweis mit methodischer Systematik die
theologische Argumentation zu ersetzten beginnt. Die philosophischen Probleme der Moderne
beziehen sich alle direkt oder indirekt auf den cartesianischen Dualismus oder die Unvermitteltheit von geistiger und körperlicher
Welt. Dies ist ausschlaggebend für die wissenschaftliche Rationalität, die nur durch eine Emanzipation von theologischen
Belangen möglich wurde: empirische Forschung ohne Restriktionen durch religiöse Instanzen. Es war in diesem Sinne aufgeklärtes
Denken, an dem heute jedoch die mehr restriktiven Züge hervorgehoben werden.
Damit ist die Voraussetzung der Schriften von Descartes umschrieben, in denen nur das abstrakte Denken als
Wahrheit anerkannt wird - auf der Grundlage dessen, was clare et distincte
('klar und deutlich') erkannt werden kann. Die Wissenschaftsgeschichte verzeichnet hier einen Neubeginn, der
allgemein mit der Loslösung vom gesellschaftlichen Kontext beschrieben wird. Descartes Philosophie steht metaphorisch für den
Übergang von der humanistischen zur rationalistischen Epoche des abendländischen Denkens im frühen 17. Jahrhundert.
Dieser Übergang vom Reanaissance-Humanismus zum Rationalismus verläuft der Abschied von der Renaissance im
wissenschaftlichen Diskurs laut Stephen Toulmin (Kosmopolis, 1991) in folgenden vier methodischen Schritten:
- Vom Mündlichen zum Schriftlichen: logische Argumente statt ausschmückender Rede
- Vom Besonderen zum Allgemeinen: allgemeine Grundsätze statt fallbezogener Beispiele
- Vom Lokalen zum Globalen: Universalismus statt praxisbezogener Fragen
- Vom Zeitgebundenen zum Zeitlosen: Übergeordnete Fragen statt kontextueller Geltung
Überblick zu Descartes Schriften:
- Regulae ad directionem ingenii (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, Fragment, ca. 1628) - Methodologische
Beschränkung auf die Frage nach der Einheit der Wissenschaft; weiters auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Vorstellung
des Dualismus: wir, die wir erkennen -versus- die Dinge, die erkannt werden sollen.
- Discours de la méthode (De la Methode pour bien conduire sa raison, & chercher la verité dans les
sciences, 1637 anonym erschienen) - Anfang einer Programmatik der selbstgenügsamen Vernunft und der abstrakten Fundamente des
Wissens, die gegenwärtig in die Krise geraten ist.
- Meditationes de Prima Philosophia (Meditationen über die Grundlagen der Philosophie ... quibus die existentia et anime
humanae a corpore distincto demonstrantur = in denen das Dasein Gottes und der Verschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen
werden, Paris 1641)
- Principia philosophiae -
ein auf das kopernikanische Weltbild gebautes Werk, das gegen die
jesuitischen Lehrbücher verfaßt wurde und u.a. den Magnetismus mechanisch zu erklären versucht (Amsterdam 1644)
Descartes löst das Problem der Erkenntnissicherheit kognitiv: was wir zu wissen
beanspruchen können, worüber also kognitive Zuverlässigkeit zu erreichen ist, ist auf klare und deutliche Ideen
aufgebaut, die wir von unzuverlässigen Überzeugungen (aus der Gesellschaft und der Kultur - vgl. dazu Gellner 1995)
reinigen müssen. Dazu dient die "Methode", über die wir unsere Vernunft kultivieren. Sie erzeugt jene geordnete Welt,
die fortan für uns erkennbar ist.
Die Effekte der cartesischen Philosophie sind: eine dualistische Grundstruktur
der Erkenntnis, die strikt zwischen Körper und Seele, zwischen Materie und Geist trennt. Eine Folge dieser
Trennung ist in den Geisteswissenschaften ein starker Theoriebegriff, der das Metaphysische (das 'über der Natur'
Stehende) privilegiert. In den Naturwissenschaften drückt sie eine Befreiung aus, als Öffnung von neuen
Forschungswegen - der Körper ist nicht länger sakrosankt, der medizinische Eingriff beispielsweise "berührt nicht
die Seele". Dies erlaubt den Fortschritt der Wissenschaften in disziplinärer Arbeitsteilung, erzeugt aber auch die
Restriktionen einer isolierten Betrachtungsweise, zum Beispiel die 'seelenlose Apparatemedizin'.
Kommunikationstheoretisch sollten wir uns aus
zwei Gründen den cartesianischen Ansatz vergegenwärtigen: Er ist
prägend für ein Weltbild, in dem Rationalität und Linearität
(cartesische Koordinaten) zentrale Momente bilden, und damit
Grundlage ist für die Mechanisierung des Denkens durch die Methode,
womit Denken sozusagen in die Gesetze der Mechanik übersetzt
wird.
Außerdem stellt Descartes in den Regulae
seine Kunstsprache der mathesis universalis vor,
eine Art Utopie der wissenschaftlichen Darstellung: Probleme der
Wissenschaft sind quantifizierbarer Natur und können in einem
eigenen, nicht repräsentierenden Medium bearbeitet werden.
algebraische Darstellung im Koordinatensystem soll dem
philosophischen Handwerk zugute kommen: wenn ein Problem auf seine
einfachste Form gebracht wird, läßt es sich von überflüssigen
Begriffen trennen und in eine geometrische Figur fassen; das
entlastet die Einbildungskraft, weil unsere Sinn die Figuren
leichter aufnehmen (Regulae 13, 14, 15).
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"Je ne sais si je dois vous entretenir des premières meditations que j'y a faites;
car elles sont si métaphysiques et si peu communes, qu'elles ne seront peut-être pas au goût de tout le
monde."
(Descartes: Discours)
"Wenn
Ungewißheit, Vieldeutigkeit und Pluralismus in der Praxis nur zu
einer Verschärfung des Religionskrieges führten,
dann war jetzt die Zeit gekommen, um endlich eine rationale Methode ausfindig
zu machen, mit der man die so lebenswichtige Richtigkeit oder Unrichtigkeit philosophischer, wissenschaftlicher und theologischer
Lehren beweisen konnte." (Toulmin 1991)
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