Christoph Schönborn:
Dringender Aufruf: Rettet die Vernunft!
Von Kardinal Christoph Schönborn
Wiedergabe des Artikels in der New York Times,
dt. erschienen in:
Vision 2000, 5/2005, S. 24f.
Seit Papst Johannes Paul 11.1996 erklärt hat, dass dieEvolution
(ein Begriff, dener nicht definierte) "mehr" sei alsnur eine
"Hypothese", haben dieVerteidiger des neo-darwinistischen Dogmas eine
angebliche Akzeptanz oder Zustimmung der römisch-katholischen
Kirche ins Treffen geführt, wenn sie ihre Theorie als mit dem
christlichen Glauben in gewisser Weise vereinbar darstellen. Aber das
stimmt nicht.
Die katholische Kirche überläßt der Wissenschaft viele
Details über die Geschichte des Lebens auf der Erde, aber sie
verkündet zugleich, daß der menschliche Verstand im Licht
der Vernunft leicht und klar Ziel und Plan in der natürlichen
Welt, einschließlich der Welt des Lebendigen, erkennen kann. Die
Evolution im Sinn einer gemeinsamen Abstammung (aller Lebewesen) kann
wahr sein, aber die Evolution im neodarwinistischen Sinn - ein
zielloser, ungeplanter Vorgang zufälliger Veränderung und
natürlicher Selektion - ist es nicht.
Jedes Denksystem, das die überwältigende Evidenz für
einen Plan in der Biologie leugnet oder wegzuerklären versucht,
ist Ideologie, nicht Wissenschaft.
Betrachten wir die tatsächliche Lehre unseres verehrten Johannes
Paul II.: Während seine eher unbestimmte und weniger bedeutende
Botschaft von 1996 über die Evolution immer und überall
zitiert wird, gibt es fast niemanden, der seine Feststellungen bei
einer Generalaudienz 1985 diskutiert, die seine kraftvolle Lehre
über die Natur repräsentieren: "Alle Beobachtungen über
die Entwicklung des Lebens führen zu einer ähnlichen
Konklusion. Die Evolution des Lebendigen, dessen Entwicklungsstufen die
Wissenschaft zubestimmen und dessen Mechanismen sie zuerkennen sucht,
hat ein inneres Ziel, das Bewunderung hervorruft. Dieses Ziel, das die
Lebewesen in eine Richtung führt, für die sie nicht
Verantwortung tragen, zwingt, einen Geist vorauszusetzen, der
Schöpfer dieses Ziels ist."
Und weiter sagte er: "All diesen Hinweisen auf die Existenz Gottes, des
Schöpfers, setzen einige die Kraft des Zufalls oder die
Mechanismen der Materie entgegen. Aber angesichts eines Universums, in
dem eine solch komplexe Organisation seiner Elemente und eine so
wunderbare Zielgerichtetheit in seinem Leben vorhanden ist, von Zufall
zusprechen, würde gleichbedeutend damit sein, die Suche nach einer
Erklärung der Welt, wie sie uns erscheint, aufzugeben. In der Tat
würde dies gleichbedeutendsein damit, Wirkungen ohne Ursache
anzunehmen. Es würde die Abdankung des menschlichen Verstands
bedeuten, der auf diese Weise sich dem Denken und der Suche nach einer
Lösung für die Probleme verweigern würde." Zu beachten
ist, daß in diesem Zitat das Wort "Ziel" ein philosophischer
Begriff ist, dermit letzter Ursache, Zweck oder Plan gleichbedeutend
ist.
Ein Jahr später hat Johannes Paul 11. bei einer anderen
Generalaudienz festgestellt: "Es ist klar, daß die
Glaubenswahrheitüber die Schöpfung den Theorien der
materialistischen Philosophie radikal entgegengesetzt ist. Diese
Theorien sehen den Kosmos als das Ergebnis einer Evolution der Materie,
die ausschließlich auf Zufall und Notwendigkeit
zurückzuführen ist."
Der zuverlässige "Katechismus der Katholischen Kirche"stellt
ebenfalls fest: "Gewiß kannschon der menschliche Verstand eine
Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen finden. Das Dasein eines
Schöpfergottes läßt sich dank dem Licht der
menschlichen Vernunft mit Gewißheiterkennen." Und er fügt
hinzu: "Wir glauben, daß Gott die Welt nach seiner Weisheit
erschaffen hat. Sie ist nicht das Ergebnis irgendeiner Notwendigkeit,
eines blinden Schicksals oder des Zufalls."
In einer unglückseligen neuen Wendung dieser alten Kontroverse
haben Neodarwinisten kürzlich versucht, Papst Benedikt XVI. als
zufriedenen Evolutionisten darzustellen. Sie zitierten einen Satz
über gemeinsame Abstammung aus einem 2004 veröffentlichten
Dokument der Internationalen Theologenkommission, verweisen darauf,
daß Benedikt zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der Kommission war
und schlußfolgern, daß die katholische Kirche mit dem
Begriff der Evolution wie ihn viele Biologen verwenden - also gleich
bedeutend mit Neodarwinismus - kein Problem hat.
Das Dokument der Kommission unterstreicht jedoch die ständige
Lehre der katholischen Kirche über die Wirklichkeit eines Plans in
der Natur. Im Hinblick auf den weit verbreiteten Mißbrauch der
Botschaft Johannes Pauls 11. über die Evolutionaus dem Jahr 1996
warnt die Kommission, daß "die Botschaft nicht als umfassende
Bestätigung aller Evolutionstheorien - einschließlich jener
neo-darwinistischer Provenienz, dieausdrücklich jede kausale
Rolleder göttlichen Vorsehung bei der Entwicklung des Lebens im
Universum leugnen - aufgefaßtwerden kann." Weiter stellt die
Kommission fest, daß "ein zielloser evolutionärer
Prozeß - der sich außerhalb der Grenzen der göttlichen
Vorsehung abspielt - einfach nicht existieren kann."
In der Predigt bei seiner Amtseinführung vor wenigen Wochenhat
Benedikt XVI. ausgerufen:
"Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution.
Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt,
jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht."
Die Geschichte hindurch hat die Kirche die von Jesus Christus
geoffenbarten Wahrheiten des
Glaubens verteidigt. Aber in derModerne ist die katholische Kirche in
der seltsamen Position, daß sie auch die Vernunft verteidigen
muß. Im 19. Jahrhundertlehrte das Erste Vatikanische Konzil eine
gerade vom "Tod Gottes" faszinierte Welt, daß die Menschheit
allein durch den Gebrauch der Vernunft die Wirklichkeit der
unverursachten Erstursache, des Ersten Bewegers, des Gottes der
Philosophen erkennen kann.
Jetzt, am Beginn des 21 . Jahrhunderts, wird die katholische Kirche
angesichts von wissenschaftlichen Ansprüchen wie dem
Neodarwinismus und der "Multiversum-Hypothese" in der Kosmologie (die
aufgestellt wurden, um dem überwältigenden Beweis für
Zweck und Plan auszuweichen, der in der modernen Wissenschaft zu finden
ist) neuerlich die menschliche Vernunft verteidigen und verkünden,
daß der in der Natur offensichtlich vorhandene immanente Plan
wirklich ist. Wissenschaftliche Theorien, die den Versuch machen, das
Aufscheinen des Plans als ein Ergebnis von Zufall und Notwendigkeit
wegzuerklären, sind nicht wissenschaftlich, sondern - wie Johannes
Paul 11. festgestellt hat – eine Abdankung der menschlichen Vernunft.