Erwin Bader
ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON RELIGION, GEFÜHLEN UND ETHIK:
VORÜBERLEGUNGEN FÜR DAS REFERAT (SOCIETAS ETHICA 2001)

Schon die letzte Konferenz mit der Behandlung der Frage nach der Beziehung der Ethik zur Psychologie war m. E. ein Meilenstein zur Erneuerung der Ethik-Debatte. Dazu verweise ich u. a. auf Erich Fromm, Das Menschliche in uns. Die Wahl zwischen Gut und Böse, Konstanz 1968 ( u. a.), ein Ansatz, der vielleicht noch mehr beachtet werden sollte. Besonders beglückwünsche ich die Societas ethica nun zur Formulierung der Fragen, die Sie anläßlich der kommenden Tagung vorgenommen haben. Dazu erlaube ich mir einige weiterführende Anmerkungen, welche der von mir favorisierten interdisziplinären Methodik der Philosophie entspringen und in einem ausführlicheren Referat behandelt werden könnten, ich möchte vor allem eine Möglichkeit der Weiterentwicklung im Sinne von Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Ethik mit Rücksicht auf die Brückenfunktion der Gefühle aufzeigen:

ad 1. Keine philosophische Bescheidenheit bräuchte m. E. gefordert werden, sondern ein neuer, höherer Anspruch an das Philosophieren, welches über den Weg psychologischer Reflexion auch einen neuen Zugang zu einer mit der Rationalität vereinbaren Mystik nicht scheut, wobei die historisch gewachsenen Schätze der religiösen Traditionen auf ihre Verankerung im Bewußtsein und in der gesellschaftlichen Praxis des Menschen hinterfragt bzw. zurückgeführt werden sollen.

ad 2. Maßgeblich für die Säkularisierung war die ursprünglich religiös motivierte Ablehnung des theokratischen Kurzschlusses, daß in gewissen Fällen der Wille Gottes zwar jeder Vernunft widerspreche, aber dann um so rigoroser gefordert sei. Aber gerade die Demokratie und die in ihr herrschenden politischen Bewegungen, die derzeit die öffentliche Meinung wenigstens formal flankieren, hat ihre wichtigsten Anregungen bekanntlich vom Christentum erhalten, wenn sich auch viele Errungenschaften gegen die Kirchen durchzusetzen hatten. Das daraus resultierende Denkschema, daß der Rückzug der Religion aus der Öffentlichkeit gefordert wurde, wird in unserer Zeit relativiert.

ad 3. Es stimmt m. E. nicht, daß es die religiöse Neutralität gewesen wäre, welche u. a. in der ehemaligen DDR zur Streichung des Unterrichtsfaches Religion geführt hätte, sondern es gab meist eine radikale antireligiöse Parteilichkeit. So verständlich auch eine solche Parteilichkeit war und so mitverantwortlich für dessen Aufkommen auch die Kirchen selbst waren, sollten die historischen Tatsachen auch nach dem Ende des Kalten Krieges nicht verdrängt zu werden. Die Frage ist heute, ob die Ethik geeignet ist, das entstandene Vakuum (als dessen negative Auswirkungen etwa in der Anfälligkeit zu rechtsextremer Gewalt abgesehen werden können) zu füllen. Einen Kompromißweg stellt das Modell von Hans Küng, genannt Projekt Weltethos, dar, weil hier das allgemeine Ethos aus allen gewachsenen religiösen Traditionen abgeleitet wird. Das bedeutet, richtig verstanden, keinen Ersatz der Religion durch eine Ethik. Ob dabei zu relativistisch vorgegangen wird, hängt von der Überzeugung des Lehrenden ab. Freilich sollte die Bedeutung von Religion und Ethik nicht auf die Aufgabe der Erziehung beschränkt bleiben, gleichsam als ob zwar der junge Mensch beider diskutierten Wertsysteme oder wenigstens eines der beiden bedürfte, aber der Erwachsene diesem Bedürfnis entwachsen wäre.

ad 4. Eine Definition des Selbstverständnisses der theologischen Ethik möchte ich mir als Philosoph eigentlich nicht anmaßen, wenngleich ich meine, daß das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie entkrampft werden kann und muß. Fürs nächste scheint mir notwendig zu sein, daß die Philosophie einen Schritt zur aufmerksameren Beschäftigung mit der Religion unternimmt, wie dies z. B. im letzten Jahr bei einem ausgezeichneten Symposium über Bolzano in Wien geschah (Bernard Bolzano als Theologe und Religionsphilosoph, 15. - 16. Dezember 2000 ). Ich selbst bemühe mich auch um Ansätze zu einem philosophischen Dialog der Religionen (dazu initiierte und organisierte ich diverse Symposien des Universitätszentrums für Friedensforschung, zuletzt “Friedensdialog der Weltreligionen, Christentum und Buddhismus³, 27. November 2000). Außerdem scheint mir auch die Reflexion über Besonderheiten der Gefühle als Brücken zwischen Religion und Philosophie ­ ohne den mystischen Bereich damit auszuklammern ­ fruchtbare Ergebnisse zu versprechen, worüber ich ausführlicher referieren möchte.

Dabei möchte ich davon ausgehen, daß den Kern der Religion die geistigen Kraft im Inneren des Menschen bildet, welche objektive Hindernisse zu überwinden vermag. Die konventionelle Beschreibung der wichtigsten Phänomene des religiösen Lebens hebt folgende Bereiche der Religion hervor: Der Kult, die Lehre und die ethische Praxis. Diese drei hängen, nicht zuletzt durch ihre anthropologische Verankerung, zusammen. Zunächst sei an eine These Fromms zur Freiheit des Menschen zum Guten und zum Bösen erinnert, welche er im oben zitierten Buch vorbringt. Wie ich hier kurz zusammenfassen möchte, ist demnach die eigentliche Freiheit die der Wahl, einschließlich jener zwischen Gut und Böse; aber die Wahl des Bösen zieht eine Determiniertheit nach sich, während die Wahl des Guten weitere Wahlmöglichkeiten offen läßt.

Der Grund ist kurz folgender: Die Nekrophilie bewirkt die Auslöschung des Lebens und somit die Einengung der Freiheit, während die biophile Wahl der Freiheit eine weitere Entfaltungsmöglichkeit vermittelt. Meditation, Kult/Liturgie und Gebet tragen zu einer Läuterung der Gefühle bei, indem Affektneigungen abnehmen und friedliche Stimmungen zunehmen und ein Einfluß auf die Ausrichtung der Gefühle möglich wird. Solche tiefere Gefühle betreffen Qualitäten wie die der Andacht und Frömmigkeit, der Verehrung und Ehrfurcht, der Betroffenheit und Ergriffenheit, der Solidarität und Verbundenheit, besonders wichtig ist das Gefühl des Vertrauens, weiters die Treue, Dankbarkeit, Demut, Scham, Schuld und Reue, Offenheit, Gelöstheit, wichtig ist auch die Geborgenheit, das Gemeinschaftsgefühl, das Mitgefühl, weiters die Hoffnung, Sehnsucht und Zuversicht, aber auch Feierlichkeit und Fröhlichkeit, schließlich die Gefühle in Verbindung mit der Liebe. Insgesamt kommt es im Gebet zu einem inneren (aktiven) Frieden, welcher eine Integration der existenziell beeinflußenden Lebensbereiche wie Erwartungen, Ansprüche, Ängste etc. aus der Umgebung, der Erinnerung und den aktuellen Strebungen des Bewußtseins ermöglicht.

Der innere Friede befähigt dazu, die Energie aufzubringen, um Handlungen frei zu wählen und diese gewählten Handlungen auch mutig zu realisieren, ohne daß damit übermäßige Spannungen in der Umwelt erzeugt werden, ja indem sogar bestehende Spannungen in der Umwelt eher reduziert werden können; dies bedeutet die Herstellung eines äußeren Friedens, also positiver Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen und Staaten. Eine weitere Konsequenz ist, daß durch die Zunahme der Verantwortung, die auf Vertrauen beruhte, der vielleicht wesentlichste Grundstein zur Fundierung des wissenschaftlichen Fortschrittes gegeben wurde, was hier nur angedeutet werden kann. Dies scheint mir auch der Sinn des Bibelwortes, daß Christus uns zur Freiheit befreit hat (Gal 5,1).

 Da es aber heißt, “handelt als Freie, aber nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für das Böse nehmen, sondern wie Knechte Gottes³ (1Petr2:16), so ist Drewermanns Kritik, daß das Christentum für die Umweltzerstörung verantwortlich ist, ernst zu nehmen, wenngleich ein Mißbrauch kein Beweis gegen die reale Kraft des Mißbrauchten ist.

(1)   Religion als Kult schafft also inneren Frieden;

(2)   Religion als Ethik beschreibt die Qualität der (aus solcher innerer Freiheit und Kraft sowie dem inneren Frieden möglich werdenden) Handlungen, welche als gesollt erkannt und von anderen, abzulehnenden Handlungen unterschieden werden;

(3)   letztlich stellt Religion als Lehre den Erkenntnisweg der jeweiligen religiösen Tradition von den Eingebungen bis zur Praxis dar.

So gesehen ist also der Kern der Religion eigentlich die personale Spiritualität, aber immer auch in Bezug auf eine Gemeinschaft, während der Kult und die Lehre den Zusammenhalt der Gemeinschaft ermöglichen, deren Quelle der innere Frieden ist, den die Lehre nicht primär erzeugt, sondern verbalisiert und dabei auch zu Abgrenzungen führt, welche im Dialog überwunden werden können, sobald auf den Kern der Religion reflektiert wird. Religion kann insofern freilich nicht durch Ethik ersetzt werden, weil die Ethik die gute Handlung zwar korrekt beschreiben, aber nicht motivieren kann, ohne die religiöse Dimension des Menschen zu berühren.

Der Begründungszusammenhang zwischen Ethik und Religion ist, was auch Hans Küng in seinem Projekt Weltethos nicht negiert, einseitig. Religion begründet Ethik, aber nichtreligiöse Ethik kann nicht begründen, warum das Gebet ethisch gut sein soll. Häufig hat sich sogar das bekannte Vorurteil eingestellt, das Gebet sei bloß eine Ersatzhandlung, die von der tatsächlichen Praxis abhalte (was freilich vorkommt, wenn der Mensch eigentlich gar keine Absicht und Kraft zur Hilfeleistung besitzt und daher auch sein Gebet keine hinreichende Mobilisierung der Antriebskräfte zuwege bringt).

Es gab und gibt ja immer schon die Frage: Warum soll ich denn überhaupt gut sein und das Gute tun wollen, wenn es scheinbar bequemer ist, nicht gut zu sein? Da hilft dann auch keine Beschreibung, was denn das Gute sei, und selbst der Hinweis auf die Reziprozität guter Handlungen nach dem Motto, eine Hand wäscht die andere, wird zwar intellektuell als Argument hingenommen, aber es besteht damit noch keine wirkliche Hoffnung, daß die Motivation zur guten Handlung gelingt.

Ethik und Religion stehen also nicht nur deshalb im Zusammenhang, weil die Ethik als Lehre in der Regel aus den religiösen Traditionen entsprungen ist, sondern vor allem dadurch, daß echte mystisch-spirituelle Religiosität dem Menschen behilflich ist, jene innere Genesung und jenen inneren Frieden zu erlangen, welcher ihm das rechte Handeln als sinnvoll, ja sogar als Freude erscheinen läßt, während die Versuchungen zum Bösen trotz ihrer schreienden Werbemethoden immer weniger wirksam werden. Als Brücke dient mir der Bereich der Gefühle, was ich in der hier vorliegenden kurzen Fassung nur sehr rudimentär ausgeführt kann.

Aus der Theorie Teilhard de Chardins läßt sich eine Erklärung dieser Mittlerrolle ableiten: Die Gefühle werden demnach

(1)   von ihrer Evolution aus dem Triebleben der Tiere (Flucht, Appetenz, Aggression) abgeleitet, treten

(2)   auf einer höheren Ebene als persönlichkeitsbedingte Gefühle nach Hubert Rohracher auf (Ehrfurcht, Sehnsucht, Leidenschaft) und können  

(3)   in ihrer geistig-vernünftig (noetisch) veredelten Gestalt als die sogenannten drei göttlichen Tugenden interpretiert werden: Glaube, Hoffnung, Liebe ­ wie ich dies schriftlich erstmals in einem Beitrag über Evolution und Umweltethik aus christlich-religions-philosophischer Sicht in einem Sammelband zur Umweltethik (hrsg. v. G. Pretzmann, Wien 2001) darlegte.

Resümierend will ich diesen Gedanken so fassen: Religion vollbringt m. E. den Durchbruch der (göttlich-befreienden) Vernunft in die Welt, was als Offenbarung erlebt wird, und dies gelingt ihr vornehmlich durch die Läuterung der Gefühle, wodurch die sukzessive personale Annahme der Ethik erleichtert wird, welche aber schon im Vorgriff als Vernunftregel menschlicher Praxis objektiv und wissenschaftlich faßbar wird.