Volkswirtschaft I, Wirtschaftsordnung

Enzyklika

MATER ET MAGISTRA (1961)

Rundschreiben unseres Heiligen Vaters Johannes XXIII. durch Gottes Vorsehung Papst an die Ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die andern Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl leben, sowie an den gesamten Klerus und die Christ- gläubigen des katholischen Erdkreises

über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre

...

ZWEITER TEIL

Klarstellungen und Weiterführungen zur Lehre von "Rerum Novarum"

Persönliche Initiative und staatlicher Eingriff in die Wirtschaft

51. Von vornherein ist festzuhalten: Im Bereich der Wirtschaft kommt der Vorrang der Privatinitiative der einzelnen zu, die entweder für sich allein oder in vielfältiger Verbundenheit mit andern zur Verfolgung gemeinsamer Interessen tätig werden.

52. Aber aus den bereits von Unsern Vorgängern angeführten Gründen bedarf es in der Wirtschaft auch des tätigen Eingreifens der staatlichen Gewalt, um in der rechten Weise die Wohlstandssteigerung zu fördern, so daß mit ihr zugleich ein sozialer Fortschritt verbunden ist und sie so allen Bürgern zustatten kommt.

53. Dieses staatliche Eingreifen, das fördert, anregt, regelt, Lücken schließt und Vollständigkeit gewährleistet, findet seine Begründung in dem "Subsidiaritäts- prinzip" (QA 78), sowie es Pius XI. in dem Rundschreiben "Quadragesimo Anno" ausgesprochen hat: "Fest und unverrückbar bleibt jener oberste Grundsatz der Sozialphilosophie, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaltstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die rechte Ordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär: sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" (QA 79).

54. Es ist wahr, die Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis und Produktionstechnik geben augenscheinlich der staatlichen Führung heute in umfassenderem Maß als früher Möglichkeiten an die Hand, Spannungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen, zwischen den verschiedenen Gebieten ein und derselben Nation wie zwischen den verschiedenen Nationen auf Weltebene zu mildern; die aus den Konjunkturschwankungen der Wirtschaft sich ergebenden Störungen zu begrenzen und durch vorbeugende Maßnahmen den Eintritt von Massenarbeitslosigkeit wirksam zu verhindern. Darum ist von der staatlichen Führung, die für das Gemeinwohl verantwortlich ist, immer wieder zu fordern, daß sie sich in vielfältiger Weise, umfassender und planmäßiger als früher, wirtschaftspolitisch betätigt und dafür angepaßte Einrichtungen, Zuständigkeiten, Mittel und Verfahrensweisen ausbildet.

55. Immer aber muß dabei festgehalten werden: Die Sorge des Staates für die Wirtschaft, so weit und so tief sie auch in das Gemeinschaftsleben eingreift, muß dergestalt sein, daß sieden Raum der Privatinitiative der einzelnen Bürger nicht nur nicht einschränkt, sondern vielmehr ausweitet, allerdings so, daß die wesentlichen Rechte jeder menschlichen Person gewahrt bleiben. Zu diesen ist zunächst das Recht und die Pflicht der einzelnen zu zählen, in der Regel sich und ihre Angehörigen selbst mit dem Lebensunterhalt zu versorgen. Das besagt: daß es überall in der Wirtschaft einem jeden nicht nur möglich, sondern leicht gemacht werden muß, erwerbstätig zu sein.

56. Übrigens macht die geschichtliche Entwicklung selbst immer einsichtiger: Ein geordnetes und gedeihliches Zusammenleben der Menschen ist einfach nicht möglich, ohne daß die Bürger und die politische Führung in der Wirtschaft zusammenwirken; das erfordert einträchtige gemeinsame Anstrengung derart, daß der Beitrag beider den Erfordernissen des Gemeinwohls je nach den wechselnden Verhältnissen möglichst gut entspricht.

57. In der Tat belehrt uns die ständige Erfahrung. Wo die Privatinitiative der einzelnen fehlt, herrscht politisch die Tyrannei; da geraten aber auch manche Wirtschaftsbereiche ins Stocken; da fehlt es an tausenderlei Verbrauchsgütern und Diensten, auf die Leib und Seele angewiesen sind; Güter und Dienste, die zu erlangen in besonderer Weise die Schaffensfreude und den Fleiß der einzelnen auslöst und anstachelt.

58. Wo umgekehrt in der Wirtschaft die gebotene wirtschaftspolitische Aktivität des Staates gänzlich fehlt oder unzureichend ist, kommt es schnell zu heilloser Verwirrung. Da herrscht die freche Ausbeutung fremder Not durch von Skrupeln wenig gehemmte Stärkere, die sich - leider - allzeit und allenthalben breitmachen wie Unkraut im Weizen.

...

Das Privateigentum

Die veränderte Lage

104. Augenscheinlich vollzieht sich in jüngster Zeit gerade bei den größten wirtschaftlichen Unternehmen eine immer schärfere Scheidung der Funktionen hier der Kapitaleigner, dort des Managements. Daraus erwachsen der staatlichen Führung recht schwierige Aufgaben. Diese hat ja darüber zu wachen, daß die Planungen der Leiter führender Unternehmen, besonders solcher, die für die gesamte Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung sind, nicht in dieser oder jener Hinsicht den Erfordernissen des Gemeinwohls zuwiderlaufen. Diese Schwierigkeiten bestehen, wie die Erfahrung zeigt, unabhängig davon, ob das für die großen Unternehmen notwendige Kapital sich in öffentlicher oder privater Hand befindet.

105. Wir wissen auch, daß heute immer mehr Menschen auf Grund der vielfältigen wirtschafts- und sozialpolitischen Sicherungen unbesorgt und zuversichtlich in die Zukunft blicken können. Früher gründete ihre Zuversicht auf einem wenn auch bescheidenen Vermögen.

106. Heute bemüht man sich vielfach mehr um die Erlernung eines Berufes als um den Eigentumserwerb. Man schätzt das Einkommen, das auf Arbeitsleistung oder auf einem davon abgeleiteten Rechtsanspruch beruht, höher als das Einkommen aus Kapitalbesitz oder daraus abgeleiteten Rechten.

107. Das entspricht vollkommen dem eigentlichen Wesen der Arbeit. Denn diese ist unmittelbarer Ausfluß der menschlichen Natur und deshalb wertvoller als Reichtum an äußeren Gütern, denen ihrer Natur nach nur der Wert eines Mittels zukommt. Diese Entwicklung ist deshalb ein echter Ausdruck menschlichen Fortschritts.

108. Auf Grund dieser wirtschaftlichen Entwicklung sind nun Zweifel darüber entstanden, ob ein von Unseren Vorgängern mit Nachdruck vorgetragener und verfochtener gesellschaftswirtschaftlicher Grundsatz unter den gegenwärtigen Umständen seine Geltung verloren habe oder weniger bedeutsam geworden sei, der Grundsatz nämlich, daß dem Menschen auf Grund seiner Natur das Recht zukommt, Privateigentum, und zwar auch an Produktionsmitteln, zu haben.

Das natürliche Recht auf Eigentum

109. Ein solcher Zweifel ist völlig unbegründet. Denn das Recht auf Privat- eigentum, auch an Produktionsmitteln, gilt für jede Zeit. Es ist in der Natur der Dinge selbst grundgelegt, die uns belehrt, daß der einzelne Mensch früher ist als die bürgerliche Gesellschaft, und daß diese zielhaft auf den Menschen hingeordnet sein muß. Übrigens würde die Anerkennung des menschlichen Rechts auf wirtschaftliche Privatinitiative gegenstandslos, wollte man dem Menschen nicht zugleich auch die Möglichkeit einräumen, die für die Ausübung dieses Rechts notwendigen Mittel selbst zu bestimmen und anzuwenden. Sowohl die Erfahrung wie die geschichtliche Wirklichkeit bestätigen es: wo das politische Regime dem einzelnen das Privateigentum auch an Produktionsmitteln nicht gestattet, dort wird auch die Ausübung der menschlichen Freiheit in wesentlichen Dingen eingeschränkt oder ganz aufgehoben. Das beweist: das Recht auf Eigentum bildet in der Tat eine Stütze und zugleich einen Ansporn für die Ausübung der Freiheit.

110. Hierin liegt die Erklärung für die Tatsache, daß jene gesellschaftlichen und politischen Verbände und Organisationen, die einen Ausgleich zwischen Freiheit und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben suchen und bis vor kurzem das Eigentum an Produktionsmitteln ablehnten, heute, durch die soziale Entwicklung belehrt, ihre Meinung merklich geändert haben und dieses Recht durchaus anerkennen.

111. Wir möchten hier auf eine Feststellung verweisen, die Unser Vorgänger Pius XII. getroffen hat: "Wenn also die Kirche den Grundsatz des Privateigentums verteidigt, so verfolgt sie dabei ein hohes ethisch-soziales Ziel. Sie beabsichtigt keineswegs, den gegenwärtigen Stand der Dinge einfachhin und ohne Abstriche zu befürworten, als ob sie darin etwa den Ausdruck des göttlichen Willens sähe, noch grundsätzlich den Reichen und Plutokraten gegenüber dem Armen und Habenichts zu schützen... Worauf die Kirche vielmehr abzielt, das ist, die Einrichtung des Privateigentums zu dem zu machen, was sie nach den Plänen der göttlichen Weisheit und den Anordnungen der Natur sein soll" (Radioansprache vom 1.9.1944, U-G 734). Das Privateigentum muß das Recht des Menschen auf Freiheit schützen und zugleich einen unentbehrlichen Beitrag leisten zum Aufbau der rechten gesellschaftlichen Ordnung.

112. Wir sagten schon, daß in nicht wenigen Ländern in der letzten Zeit die Wirtschaft einen raschen Aufschwung genommen hat. Wenn aber der Ertrag steigt, so verlangen Gerechtigkeit und Billigkeit auch eine im Rahmen des Gemeinwohls mögliche Erhöhung des Arbeitslohnes. Dadurch wird den Arbeitern erleichtert, Ersparnisse zu bilden und ein bescheidenes Vermögen zu erwerben. Es ist deswegen unverständlich, wenn von einigen der naturrechtliche Charakter des Eigentums bestritten wird. Lebt doch das Eigentum von der Fruchtbarkeit der Arbeit und erhält von ihr seine Bedeutung. Es schützt zudem in wirksamer Weise die Würde der menschlichen Person und erleichtert die Ausübung der beruflichen Verantwortung in allen Lebensbereichen. Es fördert die Ruhe und Beständigkeit des menschlichen Zusammenlebens in der Familie und fördert den inneren Frieden und die Wohlfahrt des Landes.

...

Quelle:
Papst Johannes XXIII.
Mater et Magistra
Rom, 1961

oben
 

Webdesign, Copyright des Designs: Dr. Klaus Zerbs, Linz 2002