Volkswirtschaft I, Wirtschaftsordnung

Lester C. Thurow
Lester C. Thurow

Mit der Ungleichheit leben

In der Geschichte gab es immer sehr erfolgreiche Gesellschaften, die über Jahrtausende hinweg mit enormen Ungleichheiten bei der Verteilung ökonomischer Ressourcen überlebten: das alte Ägypten, das Römische Reich, das klassische China, die Inkas, die Azteken. All diese Gesellschaften verfügten aber über politische und gesellschaftliche Ideologien, die mit ihren wirtschaftlichen Realitäten übereinstimmten. Niemand glaubte an irgendeine Art der Gleichheit, weder im theoretischen noch im politischen, gesellschaftlichen oder im wirtschaftlichen Sinn.

Im alten Ägypten und im Rom der Antike verlangte die offizielle Ideologie eine sehr ungleiche Aufteilung der Macht und der Wirtschaftlichen Erfolge. Ein großer Teil der Bevölkerung im alten Rom bestand aus Sklaven. Man begründete das in der offiziellen Ideologie damit, dass das Sklavendasein für Menschen mit einer Sklavenmentalität von Vorteil sei. Da das Gefühl für Fairness sich in einem allgemeinen gesellschaftlichen Prozess entwickelt, in dem regulative und normative Bezugsgruppen das Gefühl der Unfairness definieren, empfanden die großen Denker wie Aristoteles ebenso wie auch die in diesem System großgewordenen Sklaven die antike Umgebung als fair. Die politische und die wirtschaftliche Welt jener Zeit glaubte an kongruente Ungleichheiten. ...

Die Alternative dazu, dass der Staat in den Markt zugunsten derjenigen eingreift, die mit der Marktwirtschaft nicht mithalten können, wäre, die wirtschaftlich Schwachen ganz aus der Gesellschaft auszuschließen. Ein Ökonom des letzten Jahrhunderts, Herbert Spencer, entwickelte ein Konzept, das er den "Kapitalismus des Rechts des Stärkeren" nannte (Darwin entlieh sich diesen Terminus später und benutzte ihn in seiner Erklärung für die Evolutionsgeschichte). Spencer war der Auffassung, es sei die Pflicht der wirtschaftlich Starken, die wirtschaftlich Schwachen auszurotten. Dieser Antrieb war für ihn das Geheimnis der Stärke des Kapitalismus. Die Schwachen wurden ausgemerzt. Spencer gründete die eugenische Bewegung, mit der verhindert werden sollte, dass die Schwachen sich vermehrten. Er sah darin den humansten Weg, das zu tun, was eine sich selbst überlassene Wirtschaft sonst brutaler (nämlich dadurch, Menschen verhungern zu lassen) erledigt hätte. Nach Spencers Auffassung verlängerten und vermehrten alle sozialen Wohlfahrtsmaßnahmen nur die menschliche Agonie, da sie lediglich ein Wachstum des Bevölkerungsteils bewirkten, der langfristig ohnehin verhungern würde. ...

Die Geschichte lehrt uns auch, dass die Versionen des Kapitalismus, die auf das "Recht des Stärkeren" pochen, nicht funktionieren. Die freien Marktwirtschaften der zwanziger Jahre implodierten während der großen Depression und mussten von den jeweiligen Regierungen wieder neu aufgebaut werden. vielleicht kann man ja einen Kapitalismus ohne Eingriffe des Staates zum Funktionieren bringen, aber geschafft hat es bisher niemand. Man darf auch nicht vergessen, dass der Sozialstaat nicht von wirrköpfigen Linken erfunden wurde. An seiner Wiege standen vielmehr fast immer aufgeklärte, konservative Aristokraten wie Bismarck, Churchill oder der Patrizier Roosevelt. Mit der Einführung der sozialen Wohlfahrtspolitik wollten sie den Kapitalismus nicht zerstören, sondern retten, indem sie die Mittelschicht schützten.

Quelle des Textes:
Lester C. Thurow
Die Zukunft des Kapitalismus
Metropolitan Verlag GmbH, Düsseldorf, München, 1996
Seiten 365 ff (Auszug)

Quelle des Bildes:
U.S. Trade Deficit Review Commission, Washington, DC

oben

Webdesign, Copyright des Designs: Dr. Klaus Zerbs, Linz 2002