Europa auf der Reise ins Ungewisse

Europa der zwei Geschwindigkeiten, EU-Avantgarde, Kerneuropa: Schlagworte bestimmen nach dem Scheitern des Verfassungsgipfels in Brüssel die politische Debatte, wohin jetzt die Reise der alten und künftigen Mitgliedsländer gehen soll.


Christoph Prantner und Jörg Wojahn aus Brüssel  in: Der Standard v. 15.12.2003


"Die Verfassung ist das erste große gemeinsame Projekt der erweiterten EU", erinnerte Pat Cox, der Präsident des EU-Parlaments, am Tag des Scheiterns des europäischen Verfassungsgipfels. Es könnte auch das letzte gewesen sein, urteilt man nach den vielen Erwähnungen, die die Idee eines Kerneuropa am Wochenende in Brüssel fand. Nach der Blockade Polens und Spaniens gegen ein neues Abstimmungssystem im EU-Ministerrat, rückten vor allem die Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft wieder enger zusammen.

Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac warnte genau wie Bundeskanzler Wolfgang Schüssel davor, "das vorläufige Scheitern mit der Erweiterung in Zusammenhang zu bringen". Doch Chirac war es auch, der seine Idee von den "Pionier-Gruppen" innerhalb Europas wieder ins Gespräch brachte. Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder stellte ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" in Aussicht, sollte die EU-Verfassung auch nach dem am Wochenende vereinbarten Aufschub nichts werden. Das läge in der "Logik eines solchen endgültigen Versagens", warnte Schröder.

"Sie wird einen Motor schaffen, ein Beispiel, das es Europa erlauben wird, schneller, weiter und besser voranzukommen", illustrierte Chirac seine Idee einer EU-Avantgarde, er denkt an Verteidigung, Wirtschaft und Justiz.

Sollte es so kommen, kann er auf die österreichische Regierung nicht als Pionier-Partner rechnen. Betonte doch Bundeskanzler Schüssel nebenan, er hege "grundsätzliche Skepsis gegenüber einem europäischen Staatsanwalt", und es habe "keinen Sinn, eine strafjudizielle Zusammenarbeit mit qualifizierter Mehrheit zu machen", wie dies im Verfassungsentwurf vorgesehen ist, der zur Gänze auf Eis gelegt wurde.

Solange es weniger konkret wird, sieht Schüssel sein Land aber durchaus als Mitglied eines möglichen inneren Zirkels: "Österreich gehört seinem Selbstverständnis und seiner geografischen Lage nach zum Kern Europas", man werde "immer dabei sein", meint der Bundeskanzler.

Prag geht mit

Wäre es anders, liefe Österreich Gefahr, von seinen Nachbarn überholt zu werden: "Wir kämpfen nicht für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, aber wenn es dazu kommt, ist die Tschechische Republik dort, wo die Geschwindigkeit größer ist", schilderte Premier Vladimír Spidla in Brüssel die Haltung seiner Regierung. Auch Ungarn werde "mit Sicherheit mitgehen", wenn es zu einer engeren Zusammenarbeit eingeladen werde, so Ministerpräsident Peter Medgyessy.

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist dabei schon in den geltenden EU-Verträgen angelegt. Es existieren mit den zwölf Euroländern und den 13 Schengenstaaten bereits Avantgardegruppen. In "verstärkter Zusammenarbeit" könnten sich auch neue bilden. Nur die Außen-und Verteidigungspolitik sind ausgenommen, die Einigung darüber im Vorfeld des Brüsseler Gipfels träte nur mit der Gesamteinigung auf eine neue Verfassung in Kraft.

Riskant erscheint ein Kerneuropa nur, wenn sich einige Staaten außerhalb des geltenden EU-Rechts zusammenfänden. Die Erleichterung war daher groß, als es kurz vor Abbruch des Gipfels doch nicht zu einer Erklärung der Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg kam.

"Gegen ein Kerneuropa der sechs Gründer allein würden sich Gegengrüppchen bilden, dann haben wir wieder ein Europa der Bündnisse und Koalitionen wie im 19. Jahrhundert", warnte der deutsche Sozialdemokrat Klaus Hänsch, der das EU-Parlament in den Brüsseler Verfassungsberatungen repräsentierte.

Er und sein CDU-Amtskollege Elmar Brok schlagen nun einen anderen Weg vor: Die neue Verfassung solle eine Klausel enthalten, die es erlaubt, dass sie in Kraft tritt, auch wenn nicht alle 25 EU-Staaten sie ratifizieren. Die, die es nicht tun, könnten mit einem "loseren Verhältnis an die EU angebunden" bleiben.

Spanien kann eine solche Idee nicht gefallen. Außenministerin Ana Palacio: "Europa wird von allen aufgebaut, und hier kann keiner - kein Gründerstaat, nicht das bevölkerungsreichste und nicht das jüngste Mitglied - das europäische Gesamtinteresse kidnappen". Kommentare Seite 28 :

Der Standard 15.12.2003 :

Fiasko oder Chance?


Gerfried Sperl


Für das Scheitern des Europäischen Verfassungsgipfels wurde am Wochenende von den meisten Kommentatoren der "Nationalstolz" der Polen verantwortlich gemacht. Tatsächlich hat er wohl mitgespielt, reicht als Erklärung des Fiaskos von Brüssel aber nicht aus. Obwohl man jetzt endgültig weiß: Die Polen wollen in der Staatenliga keine Statistenrolle spielen. Westeuropa hat es auf einmal mit einem selbstbewussten Mitglied aus dem ehemals kommunistischen Block zu tun, das aus den künftigen und massiven Finanzflüssen keine Demutsgesten ableitet.

Es ist ein zufälliges, aber symbolträchtiges Zusammentreffen. Wenige Stunden nachdem den EU-Staaten die Einigung misslang, bahnte sich für US-Präsident George W. Bush der bisher größte Erfolg seiner Präsidentschaft an: die Festnahme des flüchtigen Diktators Saddam Hussein.

Genau jene Staaten, die Bush kompromisslos in den Irakkrieg gefolgt waren, erwiesen sich in Brüssel als unüberwindliche Hürden für die Verabschiedung der EU-Verfassung. Polen, Spanien und im Hintergrund Großbritannien, das selbst keine Verfassungstradition hat.

Einerseits signalisiert diese Konstellation die Fortsetzung des Konflikts zwischen den "Kerneuropäern" und den "Atlantikern". Andererseits bricht immer öfter die eigentliche Auseinandersetzung auf: Je größer dieses Europa wird, desto geringer ist die Bereitschaft, die Vorherrschaft Frankreichs und Deutschlands auf ewige Zeiten festzuschreiben.

Alle tagesaktuellen Erklärungen sollten von diesem Grundkonflikt nicht ablenken. Wer den Polen nationale Bockigkeit vorwirft, verkennt deren historische Erfahrungen. Wer den Briten die Schuld zuschiebt, unterschätzt deren Bedeutung für die EU. Und wer Frankreich und Deutschland übertriebener Machtgelüste bezichtigt, übergeht leichtfertig die jahrzehntelangen Investitionen dieser beiden Staaten in die mühsame und finanziell aufwändige europäische Integration.

Wahrscheinlich bleiben als Lehre dieses Wochenendes mindestens vier Aspekte übrig. 1. Man darf Europa nicht überfordern und muss die Realisierung des Verfassungsprojekts aufschieben. 2. Das jetzt schon - psychologisch - existierende "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" wird zum bestimmenden Faktor. Die Euroländer sind Kerneuropa. 3. Deutschland und Frankreich müssen ihre Gründerrolle neu überdenken - und modifizieren. 4. Die USA sollten ihre Haltung zu Europa nicht allein nach den Gesichtspunkten der Macht und des ökonomischen Vorteils gestalten.

Daraus sollte man auch in Brüssel Konsequenzen ziehen. Zum Beispiel die, dass man die EU nicht beliebig erweitern kann. So sehr man prinzipiell einen Beitritt der Türkei wünschen mag, so sehr zeigt das Beispiel Polen, welche Risken man eingeht. Deshalb ist auch im Falle Bulgariens, Rumäniens und Serbiens zumindest für die nächsten zehn Jahre die Assoziierung dem Beitritt vorzuziehen.

BK Schüssel zu Österreich :   Im Herzen Europas                FAZ 15.12.2003

14. Dezember 2003 Der österreichische Bundeskanzler Schüssel will bis 2005 noch eine Einigung über die neue EU-Verfassung herbeiführen. Das "vorläufige Scheitern" sei "eine kalte Dusche" gewesen, sagte der ÖVP-Politiker am Sonntag in Wien, doch sollte man das Brüsseler Ergebnis nicht mit der Erweiterung in Zusammenhang bringen - die Differenzen seien auch "zwischen großen und anderen großen" sowie "zwischen alten und anderen alten Mitgliedsländern aufgetreten". Es müsse freilich einen neuen Anlauf geben, sonst falle Europa "zwar nicht auseinander, aber sicherlich zurück".

Bundeskanzler Schröder habe zwar gesagt, daß die Gründerländer derzeit nicht planten, die Initiative zu einer verstärkten Vertiefung zu ergreifen; grundsätzlich gehöre Österreich nach Selbstverständnis, geographischer Lage und Zielen jedoch immer zum Herzen Europas. Es sei daher "selbstverständlich in unserem Interesse, zu einer Kerngruppe dazuzugehören", weil es besser sei, "mitzubestimmen, als andere bestimmen zu lassen", sagte der Bundeskanzler. Dem stimmte in Wien auch SPÖ-Vorsitzender Gusenbauer zu.

Beibehaltung der Neutralität Österreichs

In die innenpolitische Debatte über einen umstrittenen Sachverhalt im Zusammenhang mit der EU-Verfassung scheint derweil Entspannung einzukehren: Die Differenzen über die darin vorgesehene Beistandsverpflichtung nehmen ab. Sowohl die Regierungsparteien ÖVP und FPÖ als auch die oppositionelle SPÖ zeigten sich im großen und ganzen mit dem Kompromißvorschlag zufrieden, den die italienische Ratspräsidentschaft im Blick auf die Neutralität oder die Bündnisfreiheit Österreichs, Finnlands, Schwedens und Irlands vorgelegt hatte.

Schüssel sagte, Österreich könne nicht zu einem Militäreinsatz gezwungen werden, sondern "selbst entscheiden", wie es im Fall des Angriffs auf ein EU-Mitgliedsland Beistand leiste. FPÖ-Fraktionschef Scheibner bekundete, man sei einverstanden, daß jedes Mitgliedsland den Einsatz seiner Mittel "entsprechend seinen nationalen Bestimmungen wählen" könne. SPÖ-Chef Gusenbauer wünschte sich dagegen noch einen Zusatz, mit dem alle Zweifel an der Beibehaltung der Neutralität Österreichs beseitigt werden sollten. Bei den Grünen tritt nur deren sicherheitspolitischer Sprecher Pilz wider die Parteilinie für eine Beistandspflicht ein.

Text: R.O., Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2003, Nr. 291 / Seite 6

  

Dazu Der Jahresrückblick 2003 in der FAZ  http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~EAE379B0E6513451A90DAF18A57E0CAE6~ATpl~Ecommon~Sspezial.html