SCHLÜSSELPROBLEME ALS  GRUNDLAGE ZUKÜNFTIGEN  GEOGRAPHIEUNTERRICHTS

 

Wulf SCHMIDT-WULFFEN              Auszug aus Artikel in: PRAXIS GEOGRAPHIE 3/ 1994, S.13f

 

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Eine Reform der Geographie nach 20 Jahren "Reformgeographie"

 

Nach wie vor ist im Fach unbestritten, daß die Schulgeographie einer problemorientierten Ausrichtung bedarf. Sowohl die Allgemeine / Thematische Geographie als auch die Sozialgeographie (Münchner Schule) attestierten sich diese Eigenschafte, insbesondere durch die Selbstverpflichtung auf die Position S.B. ROBINSOHNs, Inhalte auf Lebenssituationen auszurichten. Also kein Reformbedarf ?

 

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit bestehen allerdings erhebliche Lücken:

·          Die Daseinsgrundfunktionen  können  k e i n e  den Unterricht strukturierenden Elemente sein, da sie 'Lebenswirklichkeit' weniger reflektieren als parzellieren und dem Schüler den Blick auf reale gesellschaftliche Strukturen verstellen (vgl. WENZEL 1982, S. 380 In: Jander/Schramke/Wenzel - Metzler Handbuch für den Geographieunterricht, Stuttgart; bzw. DAUM/SCHMIDT-WULFFEN 1980, S. 93ff, Erdkunde ohne Zukunft ? Paderborn).

·         Die Sozialgeographie fußt auf einem sozialstatistischen Gruppenverständnis und erfaßt damit nicht - wie in der Soziologie - die tatsächlichen Interakteure gesellschaftlicher Prozesse (WERLEN 1987, S.231ff , Gesellschaft Handlung und Raum; Stuttgart).

·         Damit wird der sozialgeographische Ansatz, der für sich reklamiert "in hohem Maße gesellschaftspolitisch orientiert" zu sein (vgl. A. SCHULTZ 1976, S.28), sozialharmonisierend und konfliktverleugnend (siehe WENZEL a.a.O.).  So wurde - G. HARD zufolge - der Robinsohn-Ansatz dermaßen auf eine Propaganda für das Weltbild der Münchner Sozialgeographie heruntertrivialisiert, daß jeder potentiell kritische Gedanke ausgesiebt wurde.

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Inzwischen hat man dazugelernt: "Lernprozesse ... müssen an der Alltagswirklichkeit, den Erfahrungen, Handlungsmustern, Bedürfnissen und Problemen der Lernenden ansetzen und deren Verstehenshorizont und Handlungsmotive treffen" (ENGELHARD/HEMMER 1989, S.27).

Denn diese Lernenden verstehen sich mitnichten als Objekte: Sie können alle Vermittlungsbemühungen ignorieren, unterlaufen, sabotieren - sie wollen eben als Subjekte ernst genommen werden.

Es kann daher nicht mehr alleine um die Vermittlung von Sachinformationen mit dem Ziel einer wertneutral - unverbindlichen "Raumverhaltenskompetenz" gehen. Unterricht muß sich vielmehr darum bemühen, Schüler zu bewußten Verhaltensweisen und zur Handlungsbereitschaft zu verhelfen (etwa zum Umwelthandeln). Damit ist der Schüler als  S u b j e k t des Unterrichts gefordert. Bemühungen um Einlösung der Ansprüche auf Schüler- und Handlungsorientierung haben daher an Boden gewonnen (MEYER 1981, GUDJONS 1986).

 

Schlußfolgerungen -

oder: Plädoyer für eine Neuorientierung der Fachdidaktik

 

Meines Erachtens hat die Geographiedidaktik bei einer ihrer wichtigsten Aufgaben versagt:

Die Grundsätze S.B. ROBINSOHNs, der die Geographiedidaktik in den 70er Jahren bestimmte, wurde  n i e   e i n g e l ö s t :

Die Anerkennung des Prinzips, aktuelle und zukünftige Lebenssituationen - also Lebensbedeutsamkeit zur "Meßlatte" von Ziel - Inhaltsentscheidungen zu machen, hat nicht bewirkt, daß man sich von Zielen und Inhalten verabschiedete, die diesem Maßstab nicht genügten. Ganz im Gegenteil: Ungeachtet sich verringernder Stundentafeln wurde "alter Wein in neue Schläuche" gefüllt und durch weitere "Weinmarken" aufgedröhnt.

 

KLAFKI (1985, S. 20ff, Neue Studien zur Bildungstheorie, Beltz) bietet mit dem Konzept der gesellschaftlichen Schlüsselprobleme einen m.E. konsensfähigen Weg, zu Zielen und Inhalten zu finden, die auf Lebenswirklichkeit, auf die Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Lebenspraxis zielen.

Auf dem ersten "Gothaer Geoforum" (Nov. 1993) wurden bereits erste Versuche einer 'Umdeutung' der gesellschaftlichen Schlüsselprobleme in geographische sichtbar. Deshalb: KLAFKIs 'Schlüsselprobleme' sind P r o b l e m e   v o n  M e n s c h e n /Schülern ...  n i c h t   f ü r  Fächer, und es sind  u n g e f ä c h e r t e   Probleme - keine Probleme der Geographie, der Geschichte usw.

In den Schlüsselproblemen spiegeln sich die g e g e n w ä r t i g e n Grundprobleme jeweils in historischer, geographischer und sozialer Dimension - die ihren Ausgang in der V e r g a n g e n h e i t  genommen haben und deren Lösung erst in der  Z u k u n f t  zu erwarten ist.

Es sind jene Probleme, mit denen sich die 'Kids' der gegenwärtigen Schülergeneration werden auseinanderzusetzen haben :

 

 

SCHLÜSSELPROBLEME

1.      Völkerverständugung und Friedenssicherung

2.      Verwirklichung von Menschenrechten

3.      Herrschaft und Demokratisierung

4.      Soziale Ungerechtigkeit

5.      Geschlechter- u. Generationenverhältnis

6.      Umgang mit Minderheiten

7.    Arbeit

8.      Umwelterhaltung

9.      Sucht, Agression u. Gewalt

10. Massenmedien und Alltagskultur

11. Globale Ungeleichheiten

 

Anm.: Ch.S. 2001: für das Fach GW in Österreich wäre wohl noch "12. Konsumieren" hinzuzufügen

 

....

Durch Rückzug auf  konsensfähig ermittelte Schlüsselprobleme wird es möglich, die Beliebigkeit und Subjektivität der Inhalte und Themen in Hinblick auf die Zukunftsbewältigung der Schüler einzuschränken.

Auf der Basis von Schlüsselproblemen kann eine Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen vorgenommen werden, so daß keine rasche Veralterung entsprechender Richtlinien (WSW meint damit Lehrpläne - Anm. Ch.S.) zu befürchten ist.

So weicht die Liste der hier vorgelegten Schlüsselprobleme in zwei Punkten von Klafkis Entwurf ab:

Der Ost-West-Konflikt ist entfallen, das Problem von Sucht-Agression-Gewalt (Drogen, Rechtsextremismus, militante Ausländerfeindlichkeit) ist hingegen aufgenommen worden (Es scheint Anfang der 80er Jahre noch nicht als brennendes Problem erkannt worden zu sein).

 

Was kann bei Zugrundelegung der Schlüsselprobleme als Kern des Geographieunterrichts betrachtet werden ?

Schon angesichts der geringen Zeitanteile des Erdkundeunterrichts (Anm. 2001: WSW spielt hier auf den Umstand an, daß in Deutschland in keinem Bundesland mehr Geographie durchgängig in allen Jahrgangsstufen und da etwa mit zwei Wochenstunden unterrichtet wird vgl. LPe in Deutschland )  sollte nicht in den Fehler der Vergangenheit verfallen werden, von vornherein  b e i   a l l e n  Problemfeldern "mitmischen" zu wollen. Es sollte vielmehr begrüßt werden, einen Großteil der Schlüsselprobleme anderen Fächern überlassen zu können.

Bei näherer Durchsicht lassen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich geographischer Relevanz feststellen:

As zentrale Herausforderung an die Zukunft drängt sich das Problem der Umwelterhaltung ("Ökonomie/Ökologie Problem) und die Globalen Ungleichheiten (Nord-Süd Problem) geradezu auf. Problemfelder an denen Geographie mitwirken könnte wären Völkerverständigung/Friedenssicherung, Soziale Ungleichheit, Umgang mit Minderheiten und Arbeit (Anm. 2001: In GW in Österreich wohl auch besonders ein Bereich "Konsumieren" und zwar bezogen auf den einzelnen, abseits des ersten Kernbereichs). Die übrigen Problemfelder sollten in weiser Voraussicht nicht besetzt werden.

 

Ein auf Schlüsselprobleme ausgerichteter Unterricht bedarf  w e n i g e r grundlegend neuer Themen, als der Aktualisierung und  N e u a u s l e g u n g   b i s h e r i g e r  Themen. Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:

 

a.      Klima und Vegetationszonen : Die Klimazonen sind traditionell Anlaß für die Behandlung allgemeingeographischer  Phänomene wie Klima und Landnutzung in Abhängigkeit von physischen Rahmenbedingungen. Sie sollen so eine ökozonale Orientierung über die Erde ermöglichen. Die meisten dieser Zonen sind  a b e r  das Handlungsfeld von Menschen, die kolonialen und weltmarktbezogenen Transformationen ausgesetzt sind, in denen sich  die aktuellen Prozesse von Unterentwicklung, Verschuldung und Verelendung abspielen. Es bietet sich daher eine erste sozialwissenschaftliche Einführung in die Lebensbedingungen und Handlungsweisen der Bevölkerung an, wobei die Grundmuster der Überlebenssicherung in Dritte-Welt-Gesellschaften kennengelernt werden können (siehe hiezu SCHMIDT-WULFFEN 1990, 1993).

b.      Die Höhenstufen der Anden : sie stellen das vertikale Gegenstück traditionellerweise im Unterricht zu den Klimazonen dar und werden wie diese ihres gesellschaftswissenschaftlichen Problemgehalts entkleidet. Damit fällt ihre Behandlung in neuen Schulbüchern (wie auch in Praxis geographie 11/92) hinter die gesellschaftspolitischen Ansprüche der Curriculumreform von 1969 zurück (Anm. 2001: WSW meint den Aufbruch am Kieler Geographentag) : Das Thema dient als Vehikel der Behandlung des hypsometrischen Formenwandels, dasauch bei zusätzlicher kulturgeographischer Betrachtung von der Entwicklungsproblematik nichts ahnen läßt. Dabei würde es sich anbieten, von der Höhenstufennutzung durch das Ayllusystem auszugehen: Familienverbände teilen sich auf die Höhenstufen auf und sichern sich durch den Austausch der jeweiligen Ernteprodukte gegen Hungersnöte ab.  Koloniale und nachkoloniale "Inwertsetzungs"prozesse mit ihrem Landaneignungen, Arbeitszwängen und Steuerlasten zerstören die Familienorganisation und die ausgewogene Höhenstufennutzung. Die sozialräumliche Desintegration mit ihrer stadt- und küstenlastigen Dynamik verschärft die Lebensbedingungen in den Problemgebieten aller Höhenlagen.

 

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