Demografische Katastrophe wie im 30-jährigen Krieg"

Deutschland verzeichnet die niedrigste Geburtenrate seit 1945.

Experten warnen: Ohne drastische Gegenmaßnahmen droht das Land auszusterben.

BERLIN. Allzu alarmierend klangen die Beschwörungen, die Bundespräsident Horst Köhler und Angela Merkel im Wahljahr unisono unters Volk brachten: "Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft." Ältere hatten noch eine ähnliche Binsenweisheit im Ohr, mit der einst Konrad Adenauer die Deutschen in der Blüte des Wirtschaftswunders in Sicherheit gewiegt hatte: "Kinder haben die Leute immer."

Doch die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts unterfüttern die düsteren Prophezeiungen: Sollte sich die Entwicklung linear fortsetzen, sinkt die Einwohnerzahl bis 2050 um zwölf auf 70 Millionen, und bis zur Mitte des Jahrtausends droht Deutschland auszusterben. Kinder braucht das Land, hallt es durch die Republik.

Denn für 2005 weist die Statistik einen drastischen Geburtenrückgang aus: Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Zahl der Neugeborenen unter 700.000 gefallen - auf den Tiefstand von 676.000 Babys. Mit einer Geburtenrate von 1,36 Kindern pro Frau liegt Deutschland am unteren Ende der EU-Skala, knapp vor Österreich, Italien und Spanien.

Um die Bevölkerung stabil zu halten, wäre eine Geburtenrate von 2,1 Kindern vonnöten. "Seit Jahrzehnten werden in Deutschland weniger Menschen geboren als sterben. Mittlerweile können selbst Zuwanderungen den natürlichen Schwund nicht mehr aufhalten - das Land hat begonnen zu schrumpfen. Regional tun sich bereits jetzt enorme Verwerfungen auf", resümiert eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Folgen der Kinderarmut bei gleichzeitig zunehmender Lebenserwartung für das Sozialsystem, im Speziellen für die Pensionen, sind evident. Überdies droht ganzen Landstrichen im Osten und an den Randzonen wegen Arbeitslosigkeit und Landflucht die Entvölkerung.

Experten wie der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg sprechen von einer "demografischen Katastrophe", ähnlich dem 30-jährigen Krieg. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hätte keinen günstigeren Zeitpunkt für die Veröffentlichung seines Buchs "Minimum" finden können. Darin postuliert er die Bedeutung der Familie, was eine breite Debatte auslöste (siehe Buchbesprechung auf dieser Seite). Für Vordenker wie den Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel oder den Historiker Paul Nolte ist dies auch die Voraussetzung, einen Mentalitätswandel einzuleiten. Miegel war jahrelang als Kassandra-Rufer durch die Lande gezogen. Jetzt, da seine Prognosen eingetroffen sind, gibt er sich keinen Illusionen hin. "Die Politik kann verhältnismäßig wenig leisten. Sie hat das Kindergeld immer wieder erhöht, und die Wirkung ist gleich Null."

Er ortet ein "Kopfproblem", einen Trend zur immer stärkeren Individualisierung: "Kinder stehen in Konkurrenz zu individualistischen Lebensformen." Erst wenn sich die Bevölkerung dagegen aufbäume, werde ein Gegentrend einsetzen. Wie andere ist er davon überzeugt, dass die Gesellschaft den Zeitpunkt versäumt habe, um der Überalterung gegenzusteuern. "Der Zug ist abgefahren", sagte auch Schirrmacher dem "Spiegel.

Derzeit ist die Politik bemüht, Korrekturen vorzunehmen, Anreize zu schaffen. Von Anfang hat sich die Regierung Merkel des Themas angenommen - wenngleich nicht immer im Gleichklang. SPD-Chef Matthias Platzeck wird zwar nicht müde, die Familienpolitik zu betonen. Doch die Förderung der Kinderbetreuungszeiten führte zum ersten Koalitionskrach mit Familienministerin Ursula von der Leyen. Der Plan der "Mutter der Nation", als siebenfache Mutter modellhaft angepriesen, sollte ursprünglich nur besser verdienende Paare begünstigen, nicht aber Allein- und Geringverdiener sowie Alleinerzieher.
Ohnehin stellte Finanzminister Steinbrück nur 400 Millionen Euro aus seinem Budget zur Verfügung. Stattdessen schlägt der Demograf Birg drastische familienfreundliche Maßnahmen vor: Eltern sollten bei der Besetzung von Jobs bei gleicher Qualifikation den Vorzug vor Kinderlosen bekommen; ein Wahlrecht für Kinder, das die Eltern wahrnehmen und eine Änderung des Versicherungssystems zu Gunsten von Familien. Schon drängen Politiker wie Wirtschaftswissenschaftler auf eine Aufstockung der Renten für Eltern und einen Abschlag für Kinderlose.

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