Der "Gebärstreik" - und die Suche nach den Ursachen
Österreich hat eine der üppigsten Familienförderungen - Dennoch sorgt man sich um niedrige Geburtenraten

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Die Uhr tickt. Die  Statistik Austria  zählt auf ihrer Homepage die rasch wachsende Weltbevölkerung. 6.509,867.243 Menschen waren es Freitagnachmittag. Jede Minute kommen 147 Menschen dazu. Um Menschen anderswo geht es aber nicht, die großen Sorgen der PolitikerInnen im kleinen Österreich drehen sich um die heimische Bevölkerungsentwicklung. Die neue Geburtenstatistik wird mittlerweile fast so regelmäßig veröffentlicht wie die Arbeitslosenstatistik - und alarmiert kommentiert: Denn die Zahl der Kinder sinkt, Österreich liegt mit einer Fertilitätsrate von 1,42 im unteren EU-Feld. Bis 2050 wird die Bevölkerung nach Prognosen der Statistik Austria wachsen, danach schrumpfen.

Dabei hat Österreich mit Kindergeld, Familienbeihilfe und steuerlichem Alleinverdienerabsetzbetrag eine der üppigsten Familienförderungen der Welt. Nur: Geld allein macht keine Familie. "Die Fertilität von Frauen ist in den Ländern höher, in denen sie ein größeres Maß an Gleichberechtigung erreicht haben", bringt der deutsche Soziologe Franz-Xaver Kaufmann den Stand der Forschung auf den Punkt.

Bild von Tieren in Gefangenschaft

In Österreich bedeutet K wie Kind oft K wie Karriereknick, wenig Wunder, dass viele Akademikerinnen kinderlos bleiben. Denn Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist nur ein Wahlversprechen: Österreich hinkt bei der Kinderbetreuung Frankreich oder Skandinavien weit hinterher. Michael Fuchs vom Zentrum für Sozialforschung ging in einer neuen Studie der Frage nach, wie viele Betreuungsplätze fehlen. Die Antwort: Um auf das Niveau des Vorbild-Landes Schweden zu kommen, wären in Österreich 650.000 zusätzliche Plätze notwendig. Selbst vom viel bescheideneren EU-Ziel, ein Drittel der Kleinkinder betreuen zu lassen, ist Österreich 50.000 Plätze weit entfernt. Eine ähnlich große Lücke gibt es bei Sechs- bis 14-Jährigen: In der Altersgruppe werden in Österreich nur 14 Prozent außer Haus betreut. "Ein Schritt weg von der Geldförderung zum Ausweitung des Angebots wäre wichtig", seufzt Fuchs. Wobei ein Kindergarten noch kein Angebot sei: "Wenn im Sommer zwei Monate geschlossen ist, am Nachmittag und in Oster- und Weihnachtsferien auch, nützt das Angebot nichts." Zumal die unflexible Kinderbetreuung im krassen Widerspruch zur geforderten Flexibilität am Arbeitsmarkt steht.

Wo berufliche Mobilität und Flexibilität als Zwang empfunden wird, muss der Nachwuchs warten, sagt Soziologe Norbert F. Schneider. Neben flexiblen Arbeitszeiten boomen auch flexible Beschäftigungsformen in Österreich: Teilzeitarbeit ist viel stärker gestiegen als im EU-Durchschnitt, jede vierte Frau arbeitet Teilzeit. Auch zu ihrem Arbeitsplatz pendeln immer mehr: Rund 165.000 Menschen müssen lange Anfahrtszeiten zu ihrem Job in Kauf nehmen - um 49 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Auch Wochenendbeziehungen sind laut Schneider ein Trend, der die Geburtenzahl reduziert.

Drastischer Vergleich

In das Lob auf die flexible Arbeitswelt, das die Regierung von Kanzler Wolfgang Schüssel abwärts (siehe Zitiert) singt, mag Politologin Claudia von Werlhof von der Uni Innsbruck nicht einstimmen. Für sie hängen Flexibilität und sinkende Geburtenrate zusammen. "Tiere in Gefangenschaft vermehren sich auch nicht, weil sie keine Kontrolle über ihre Lebensbedingungen haben", greift Werlhof zum drastischen Vergleich. Die (Studenten-)Unruhen in Frankreich sind für sie Ausdruck der Perspektivenlosigkeit. Dass die Generation "Werkvertrag und Arbeitslosigkeit" sich zu unsicher fühlt, um Kinder in die Welt zu setzen, überrascht sie nicht. Mysteriöser ist für sie, warum "neoliberale Politik den Gebärstreik nicht ernst nimmt".

Die politische Debatte kreist hingegen um drei F: Fruchtbarkeit, Familie, Frauen. Das vierte F, Feminismus, fehlt. Das sei im Sinn konservativer Familienwünsche, analysiert Politologin Sieglinde Rosenberger: "Es wird nicht offen gesagt, dass Frauen nur Mütter sein sollen, aber das schwingt im Subtext mit." Problematisch an dieser von Schwarz-Blau forcierten Debatte ist für Rosenberger, "dass der Gleichstellungsdiskurs überhaupt kein Thema mehr ist. Initiativen zur Schließung der Einkommensschere zwischen Männern und Frauen etwa fehlen".

Die Sorge um leere Sozialkassen

Darum kümmert sich die Industriellenvereinigung nicht. Den Mangel an Kinderbetreuungsplätzen kritisiert sie hingegen neuerdings fast so oft wie die Opposition. Das ist kaum überraschend: Denn für die Finanzierung des Sozialstaats ist, im Gegensatz zu Schirrmachers Alarmthesen, nicht die Zahl der Kinder entscheidend - sondern die Zahl der Erwerbstätigen. Weder Kranken- noch Pensionssystem werde zusammenbrechen - unter einer Voraussetzung, die Sozialforscher Michael Fuchs auf den Punkt bringt: "Österreich muss die Reserven auf den Arbeitsmarkt bringen. Also die Gruppen, die derzeit selten arbeiten, mobilisieren - vor allem Menschen über 60 und Frauen."

(Eva Linsinger, DER STANDARD-Printausgabe, 18./19.03.2006)

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Gegen die Bestrafung von Kinderlosen durch Pensionskürzungen,

wie dies in Deutschland debattiert wird (vgl. Wr.Zeitung 18.3.206), haben sich Sozialministerin Ursula Haubner (B) und die SPÖ ausgesprochen. Haubner betonte am Freitag, dass Österreich mit der Pensionssicherungsreform und der Harmonisierung rechtzeitig gehandelt habe. "Österreich, das bestätigt auch eine Studie der EU, nimmt europaweit eine Vorbildfunktion ein. Wir sichern und erhöhen die Pensionen auf einem hohem Niveau, das nachfolgenden Generationen eine staatliche Pension garantiert", betonte Haubner.

Ein "striktes Nein zu Pensionskürzungen für Kinderlose in Österreich" gab es auch von SPÖ-Bundesgeschäftsfrührerin Doris Bures. Sie nahm die Debatte in Deutschland und die StudentInnenproteste in Frankreich gegen den radikalen Abbau des Kündigungsschutzes für BerufsanfängerInnen zum Anlass, um auf die Gefahr des sozialen Zusammenhalts in Ländern mit konservativ geführten Regierungen zu verweisen.

Zuletzt hatten die sinkenden Geburtenraten in Deutschland zu Pensionsdiskussionen geführt. Der CSU-Bundestagsabgeordente Norbert Geis hatte vorgeschlagen, die Renten für Kinderlose zu kürzen oder deren Beiträge zu erhöhen. Der Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, schlug vor, alle Arbeitnehmer sollten acht Prozent vom Bruttoeinkommen zur Privatvorsorge ansparen, wobei Eltern Abschläge zustehen sollten. (APA/AFP)

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