Untergang der "Überlebensfabrik"
"Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft" -

Das neue Sachbuch von Frank Schirrmacher sorgt für teilweise reaktionäre Debatten

"Es ist eiskalt. Und so weit das Auge reicht, liegt Schnee." So unwirtlich beginnt Minimum, das neue Werk von Frank Schirrmacher. Und es wird noch viel ungemütlicher in diesem schmalen Büchlein des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wir befinden uns nämlich im Jahr 1846 am Rande der Sierra Nevada. Dort, am Donnerpass, stecken 81 Siedler - viele von ihnen aus Österreich und Deutschland - im Schnee fest. Sie wollen gen Westen, nach Kalifornien, die meisten kommen nie an.

Fünf Monate später, als der Rest des Trecks gerettet wird, stellt sich heraus: Obwohl jung und kräftig, waren viel mehr allein reisende Männer gestorben als Mitglieder von Familienverbänden. Auch eine Feuersbrunst in einem Hotelkomplex auf der Ilse of Man 1973 belegt für Schirrmacher "das unvergleichliche Wunder der Überlebensfabrik Familie": Während sich Kinder, Eltern und Ehepaare gegenseitig halfen, scherten sich die "Einzelkämpfer" in Freundesgruppen nicht umeinander, sondern rannten allein und unorganisiert in den Tod.

Kernaussage Schirrmachers ist :

"Ohne Familien wird die Gesellschaft untergehen" - lautet vereinfacht die Kernaussage in Schirrmachers Minimum, das passend zur Leipziger Buchmesse herauskam und zweifellos wieder ein maximaler Bestseller werden wird, so wie schon Das Methusalem-Komplott, in dem sich Schirrmacher mit den Problemen der alternden Gesellschaft beschäftigt. Nun setzt er - medial begleitet vom Spiegel und der Bild-Zeitung - am anderen Ende der Alterspyramide an - bei den Kindern oder vielmehr beim immer spärlicher vorhandenen Nachwuchs der Deutschen und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Gesellschaft ergeben.

Gründe für gewollte Kinderlosigkeit sind weithin bekannt: Zu anstrengend, zu teuer, zu viel Angst bei der Erziehung zu versagen. Als weitere Ursache nennt Frank Schirrmacher das Fehlen von nachlebenswert erscheinenden Familienkonstellation: Wer keine Kinder aufwachsen sieht, verspürt auch selbst keine große Lust auf Nachwuchs. Schirrmacher: "Es wird in den kommenden Jahren viele Familien geben, in denen das jüngste Mitglied jenseits der vierzig ist."

Weniger Solidarität
Wer aber keine Familie mehr um sich habe, der verlerne auch Mitgefühl und Solidarität, dessen soziale Bindungen reduzieren sich auf ein "Minimum". Familien produzieren Altruismus, erklärt Schirrmacher. "Sie opfern sich auf, sie entwickeln eine Ökonomie des Teilens, und zwar sowohl materieller wie immaterieller Art." Oder anders gesagt: Blut ist dicker als Wasser.

Passend zum Buch hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gerade eine neue Studie veröffentlicht: Die Bundesrepublik Deutschland hat weiterhin die weltweit niedrigste Geburtenrate und Kinderzahl je 1000 Einwohner. Statistisch gesehen bringt gegenwärtig jede Frau 1,36 Kinder zur Welt, das ist der niedrigste Wert seit 1945.

"Kinder kriegen die Leute immer", hat der 1876 geborene erste Kanzler Deutschlands, Konrad Adenauer, gesagt und damit begründet, warum das Sozialversicherungssystem in Deutschland ewigen Bestand haben werde. Heute jedoch gilt das längst nicht mehr. Seit einigen Jahren werden die Sozialsysteme "reformiert", der und die Einzelne muss mehr Lasten tragen als früher: Wer im Alter nicht darben will, kommt nicht mehr um eine Privatvorsorge herum, auch die Zuzahlungen zu Medikamenten und Spitalaufenthalten sind gestiegen.

Klagen

"Gedöns" nannte der deutsche Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder Familienpolitik früher abfällig. Heute hingegen klagen viele deutsche Sozialdemokraten, dass die SPD das Familienministerium nach dem Regierungswechsel im Herbst an die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen abgegeben hat. Familie - das ist eines der wenigen Polit-Felder, wo es noch etwas zu verteilen gibt.

Von der Leyen. selbst siebenfache Mutter, machte sich binnen kürzester Zeit einen Namen. Sie will berufstätige Frauen sehr viel stärker fördern, als es sich viele Konservative wünschen und den Nachwuchs in Gratiskindergärten unterbringen.

Das Schirrmacher-Buch hat in Deutschland eine Debatte über den Wert von Familie ausgelöst, dabei aber auch ziemlich merkwürdige Ansichten zutage gefördert. Johann Eekhoff, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik der Uni Köln, möchte Menschen ohne Kinder mit Pensionskürzungen bestrafen.

Schirrmacher, der selbst ein Kind hat, setzt übrigens zur Lösung des Dilemmas auf die Frauen, weil sie praktischerweise "erstmals in der Geschichte alle Funktionen beider Geschlechter ausüben können": Arbeiten, die Alten pflegen und in Zukunft auch noch mehr Kinder kriegen. Die Männer hingegen werden "immer als die Holzfäller und Jäger in unserer Gemeinschaft gebraucht", aber nicht so sehr für "verwandtschaftliche Fürsorglichkeit", meint Schirrmacher - im Jahr 2006 und nicht 1846 am Donnerpass. (Birgit Baumann,

DER STANDARD-Printausgabe, 18./19.03.2006)

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