Ch. SITTE: Entwicklung des Unterrichtsgegenstandes Geographie, Erdkunde, Geographie u. Wirtschaftskunde an allgemeinbildenden Schulen in Österreich nach 1945. Dissertation an der Grund- u. Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. 1989, 2 Bde.
.Kapitel
8.
"GEOGRAPHIE"
OHNE "WIRTSCHAFTSKUNDE" ?
(EXKURS AM BEISPIEL DER BHS, insbesondere der HAK)
________________________________________________________________
8.1
VORBEMERKUNGEN:
.
Im
Ganzen betrachtet, wird man das administrative und didaktische Umfeld für
allgemeinbildende Fächer an berufsbildenden Schulen schlechter einschätzen müssen,
als die Situation von vergleichbarer Schulgegenständen wie "Geographie und
Wirtschaftskunde" , "Geschichte und Sozialkunde", "Biologie
und Umweltkunde", zT. auch "Deutsch" und in manchen Typen auch
die naturwissenschaftlichen Fächern an den allgemeinbildenden Schulen ist. Aus
der administrativen Umgebung ist dies insofern ableitbar, als
Schulaufsichtsorgane zum überwiegenden Teil aus dem Kreis der "typenbildenden
Gegenstände" rekrutiert werden und bei Lehrplandebatten Veränderungen auf
den Stundentafeln fast immer zulasten der allgemeinbildenden Gegenstände gehen.
Auch im Bezug auf Lehrplaninhalte der allgemeinbildenden Fächer ist der
politische Einfluß dieser, von der Fachdidaktik des jeweiligen Gegenstandes
ziemlich unbeleckten und daher auf ihre traditionellen Vorstellungen der Inhalte
eines solchen Schulfaches zurückgreifenden Entscheidungsträger sehr gewichtig.
Im speziellen Fall des Faches "Geographie und Wirtschaftskunde" kommt
hinzu, daß weder sie, noch ein großer Teil der Lehrer (und auch
Schulbuchautoren) die 1985 doch grundsätzlich veränderten 10-14jährigen
Lehrpläne zur Kenntnis genommen haben.
Betachtet
man die Entwicklung von "Geographie und Wirtschaftskunde" - Lehrplänen
in Österreich seit ca.1970, so kann man drei unterschiedlich wirkende
Entscheidungswege feststellen:
8.1.1
Lehrplanarbeit durch Kommissionen:
In den "großen" Schultypen Hauptschule (HS) und
Allgemeinbildende höhere Schulen (AHS) Unter- bzw. Oberstufe erfolgten langjährige,
wissenschaftlich begleitete Schulversuche. In den Lehrplankommissionen saßen
sowohl Lehrer, Vertreter der
Sozialpartner als auch Vertreter der Pädagogischen Akademien und Universitäten.
Die Teilnehmer wurden durch wiederholten Einsatz in der
Fortbildungsveranstaltungen während der langen Beratungsphase
einem breiten Kreis von Fachkollegen persönlich bekannt. Umgekehrt
flossen so Anregungen der Basis - oft nach langen und um Überzeugen bemühten
Diskussionen in die Lehrplantexte ein. Die Kommissionsvorschläge der Experten
gingen dann so auch in die
Bergutachtungsverfahren (siehe dazu die vorhergegangenen Kapitel in
dieser Arbeit).
8.1.2
Lehrplanarbeit ausgehend von Lehrerinitiativen:
Die zweite dokumentierte Möglichkeit, ist die einer von den betroffnen
Lehrern ausgegangenen Initiative. Zu nennen wäre hier die Entstehung des GW-LP
an Höheren technischen Lehranstalten ( dokumentiert bei FLOSSMANN G. in
GW-Unterricht 23/1986) . Im Grunde ist dies das einzige
Mal, daß eine Initiative der Basis
Erfolg gezeigt hatte: Die
letzten Lehrplanänderungen an den HTL liefen in einem Fach wie GW so ab, daß
mehr oder minder die alten Angaben in den nächsten LP übernommen worden waren.
So geschehen ist das in der dem LP 1963 (vgl. BLASONI M. 1968 S.302) - auch mit
einem Lehrstoffverteilungsvorschlag ebenda 303)
folgenden
Änderung 1977, die kaum Veränderungen gebracht hatte (G.FLOSSMANN: 1986,
S.62ff).
Das Unbehagen der Lehrerschaft formierte sich in einem
Bundesfortbildungsseminar in Kieglach im November 1979, an dem auch Wolfgang
SITTE, H.WOHLSCHLÄGL als Referenten eingeladen worden sind: Nach vielen
Diskussionen und Gesprächen gab es die Zustimmung aller Teilnehmer für ein
themenorientiertes Kurssystem als Lehrplanvorschlag (nach: F.BAAZ: 1979,S.47).
Ein solcher Vorschlag für ein Kurssystem war in Österreich erstmals in SITTE
W./WOHLSCHLÄGL H.(1975) publiziert worden.
Der Seminarleiter G.FLOSSMANN wurde daraufhin zum treibenden Motor der
folgenden Entwicklung. Einerseits kam ihm dabei die, von offizieller Seite als
wenig wichtiges "Nebenfach" (in Kombination mit Geschichte) eingeschätze Position von GW im HTL-Fächerkanon ( man brauchte 1962/63
die "Wirtschaftskunde" ja nur wegen der allgemeinen
Hochschulstudienberechtigung - in der Fachschule heißt es bis heute nur "Geographie"
!) so zugute, daß es der Ministerialbürokratie relativ gleichgültig war,
welche Ziele und Inhalte darin unterrichtet würden. Andererseits war Floßmann
aber schulpolitisch im Berufspädagogischen Institut Niederösterreichs so stark
verankert, daß er eine bunt zusammengewürfelte Projektgruppe engagierter
Lehrer (auch anderer Schultypen) und Fachdidaktikern der Universität Wien zur
Lehrplanentwicklung autochton aufstellen durfte. Diese Arbeitsgruppe lieferte
ihm in der Folge dann das Konzept (siehe FLOSSMANN:1986, S.66), welches er über
seine Funktion im BPI-Nö an die Landes-ARGEn heranbrachte. Die ersten
Unterlagen (FLOSSMANN,1983) gingen im Sommer 83
mit der Bitte um Rückmeldungen an die Kollegen in den Schulen hinaus. Aus dienstrechtlichen Schwierigkeiten bezüglich
finanzieller Abgeltungen der unterschiedlichen Arbeitsbereichen unterstehenden
Teilnehmer zog sich die Arbeit von 1980 bis 1983 weiter
hin, ohne daß mehr als ein Unterlagenheft am BPI-Nö herausgebracht werden konnte.
Nach einer weiteren fachdidaktischen Überarbeitung im Herbst 1983 (hier
waren neben Flossman und der ARGE-Leiterin in Wien Ch.Mandl, auch noch W. Rieß,
Ch.Sitte von er ARGE f. kaufmänn.Schulen in Wien beteiligt - siehe FLOSSMANN
1986, S. 66) wurde der -
damals noch auf drei Jahrgänge konzipierte - Entwurf im
November von den beiden ARGE-Leitern G. FLOSSMANN und Ch. MANDL beim Ministerium eingereicht (vgl. FLOSSMANN/MANDL
in GW-Unterr. 17(1984 S. 5ff)). Inzwischen war
aber - wir werden im folgenden Beispiel sehen, in typischer Weise für die Arbeitsform der BHS-Abteilung im BMfUK - die
Stundentafeldiskussion für die HTL-LP 1986 (Abt. Elektronik,Elektrotechnik, Nachrichtenwesen) soweit fortgesetzt, daß für GW
zwar die gleiche
Stundenanzahl, nunmehr aber nur auf die ersten zwei Jahrgänge verteilt,
unverrückbare äußere Bedingung geworden ist.
Typisch für diese letzte Phase war, daß die (der ursprüngliche Vorschlag war ja fachdidaktisch in drei Stufen konzipiert gewesen) Umarbeitung von einem fachfremden Ministerialbeamten, rein nach formalen Kriterien, ohne Beiziehen von Fachgeographen erfolgt ist. Wie sich dann sowohl hier, als auch beim dritten Beispiel, den GW-LP an kaufmännischen Schulen zeigte, sind im offiziellen Begutachtungsverfahren dann nur mehr marginale Veränderungen - wenn überhaupt - möglich (Das Ergebnis dieser Phase zeigt der LP HTL im BMUK VdgBl 120 v. 1.10.1986, S.595) Anm. 2002 Ch.S.: Die letzte - im Vergleich nur marginale LP-Veränderung 1997 dokumentiert BMUK VdgBl. 127 v. 15.12. 1997, III.Sondernummer S. 587f
Eher eine Enttäuschung bildet G.FLOSSMANNs HTL-GW-Buch von 1989 - sind
doch darin zum überwiegenden Teil, die schon 1985 in einem "Superseydlitz"
für den länderkundlichen AHS-Lehrplan erstellten Kapitel (mit viel alter
Morphologie und schwacher Wirtschaftskunde) enthalten. Im Grunde wurden hauptsächlich
nur Überschriften und Kapitelreihenfolgen gegenüber den, vom gleichen Autor zu
- nach didaktisch wesentlich veralteteren - HAK und HLA Lehrplänen gestalteten
Buchausgaben, verändert. Die Chance, ein zum LP adäquates Lehrmittel zu
schaffen, wurde so leider nicht ergriffen.
Ähnlich autonom in der Entstehung wie der HTL-LP verlief sonst in Österreich
nur eine weitere Lehrplanarbeit , nähmlich im Bereich der Höheren land-und
forstwirtschaftlichen Lehranstalten (RERYCH W.1986). Die Lehrplanentwicklung in
diesem Schultyp (allerdings im Fach Geschichte und Sozialkunde) verwenden auch
POSCH und THONHAUSER (1987), um exemplarisch ziel- und zukunftsorientierte
Lehrplanerstellung vorzuführen. Die Einführung des LP zog sich aber aus
schulorganisatorischen Gründen lange Jahre hin (LP HLF in: BGBl.
491. Vdg.v. 1.9. 1988 - vgl. auch http://www.ris.bka.gv.at/auswahl/) .
Leichter durchsetzbar dürften somit solche basisdemokratisch,
erziehungswissenschaftlich und fachdidaktisch sicher zeitgemäßere
LP-Erstellungsmodelle im Bereich der Abteilung Berufsbildende Schulen im
BMfUK also nur dort sein, wo entweder nur ganz wenige Schulen davon betroffen sind (12 HLFBLAs in Österreich), oder wie
das Beispiel HTL GW-LP gezeigt hat, politischer Einfluß der Fachvertreter mit fachinhaltlicher Interesselosigkeit der
zuständigen Ministerialräte und Landesschulinspektoren zusammentreffen (und
auch keine traditionell gestaltete lehrmittel schreibende Landesschulinspektoren
blockieren ).
Wie Entwicklungen verlaufen, wo diese beiden Umstände umgekehrt
auftreten, soll das Beispiel der jüngsten Reformbestrebungen zu den GW-LP an
kaufmännischen Schulen 1988 illustrieren.
Die dritte, weit weniger erfreuliche Form konnte man bei der "Entstehung"
der Lehrpläne für Handelsakademien (HAK) und (HAS) Handelsschulen feststellen:
die von oben gesteuerte Lehrplanerstellung
unter Zuhilfenahme der Amtsautorität des BMUKS, gegen die Bestrebungen für
einen fachdidaktisch zeitgemäßen GW- Unterricht.
Dieser Lehrplan wurde ohne irgendwelche Rücksicht auf die neuen 10-14jährigen
Lehrpläne bzw die Entwicklung in der AHS-Oberstufe und mit einer Reihe
fachlicher Fehler in seiner Textierung
(!) vom BMUKS her durchgedrückt. )Und dies trotz einer Reihe von - auch
universitären - ablehnenden Stellungnahmen, die forderten, daß zumindest die
vielen fachlichen Fehler korrigiert werden sollten - Dieser HAK LP wurde
letztlich veröffentlicht in BGBl. 146. Stück, 387.Vdg v. 21. 7. 1988 -
vgl. auch http://www.ris.bka.gv.at/auswahl/)
Anm. Ch.S. 2002: Die - erst wieder 2002 ver
Diese Entwicklung gerade in den kaufmännischen Schulen war der Endpunkt
eines Prozesses, der im Folgenden zum Vergleich mit den
Entwicklungen in den allgemeinbildenden Pflichtschulen angeführt werden
soll. Dies deswegen, weil gerade in HAK und HAS, großteils unbeachtet von der
universitären Fachdidaktik in Österreich, im 19.Jahrhundert das Schulfach
"Handelsgeographie" die stärkste Vertretung in einer Oberstufenform
gehabt hatte!
Die Lehrplanreform 1977/78 in den kaufmännischen Schulen brachte - aus
noch anzuführenden Gründen - den Verlust der Wahlmöglichkeit
von "Geographie und Wirtschaftskunde" als Maturafach, da
das Schulfach von den drei letzten Jahrgängen in die drei ersten Jahrgänge der
fünfklassigen Handelsakademie verschoben wurde.
Interessanterweise
bewirkte aber diese Lehrplanreform Ende der 70er Jahre erstmals, zumindest
teilweise ein Hineinfließen und Festschreiben zeitgemäßer fachdidaktischer
Ansätze in einem österreichischen Regelschullehrplan .
Umgekehrt wurde aber die, zumindest bei einem Teil junger (die
HAK und HAS erlebten in diesen Jahren eine starkes Wachstum und dadurch starken
Junglehrernachzug) und dadurch plötzlich selbstbewußter gewordenen GW-Lehrer
dieses Schultyps, erfolgte Aufbruchsstimmung durch die (ausgesprochen genau dokumentierte)
Vorgangsweise der Vertreter des BMUKS bei der verschämt "Lehrplananpassung"
genannten Reform 1988, wieder zurückgestutzt.
Einen Angelpunkt bei dieser Auseinandersetzung hat immer wieder die
Argumentation gespielt, o b
oder o b
n i c h t oder w i e
s t a r k der
wirtschaftskundliche Bereich im Fach "Geographie und Wirtschaftskunde
(Wirtschaftsgeographie)" - wie es in seiner damaligen korrekten Bezeichnung
hieß - an
kaufmännischen Schulen abzudecken sei ! Umgekehrt wurden von amtlicher Seite
Vorschläge einer Orientierung
in Richtung "Geographie und Regionalanalyse" (vergl. DERFLINGER
1986) oder der Hereinnahme von in der HAK/HAS nicht abgedeckten Bereiche wie
"Ortsbildgestaltung, Architektur" etc. (in der AHS heute großteils im
Fach "Bildnerische Erziehung", das es an den BHS nicht gibt), die aber
für Selbsttändige oder Sparkassendirektoren, Fremdenverkehrsmanagern - alles
Absolventen der kaufmännischen Schulen - wesentliche Horizonterweiterungen im
Sinne einer "Beteiligung am Raumordnungsprozeß" darstellen würden,
entweder ignoriert oder abgelehnt.
Dies macht die, nach wie vor laufende Auseinandersetzung zwischen eher
retardierenden Vertretern des BMUKS (und z.T. ihren Buchabsatz geführdet
sehenden LSI ) und auf eine zeitgemäße Interpretation der Aufgaben des
Schulfaches drängenden GW-Lehrern an kaufmännischen Schulen zu einem guten
Beispiel für die - im allgemeinbildenden Schulen wohl akademische - Frage, WAS
denn mit dem Schulfach "Geographie und Wirtschaftskunde" geschähe,
wenn der ökonomische Bereich durch andere Schulfächer eigens abgedeckt würde.
In den HAKs (wie in den meisten anderen BHS) ist dies neben dem Leitfach "Betriebswirtschaftslehre"
(BWL) besonders
das von Juristen normalerweise unterrichtete Fach "Volkswirtschaftslehre
und Soziologie" (Von den erfolglosen Bemühungen vgl. Ch.SITTE in GW-Unterr.
16/1983 S. 656 f).
Da der Autor dieser Arbeit sowohl in einer Handelsakademie/
Handelsschule, als auch in einer AHS und einer Hauptschule unterrichtet,
erschien es ihm lohnenswert, auf einen diesbezüglichen Vergleich der Position
des Schulfaches und der Lehrplanentwicklung in "Geographie und
Wirtschaftskunde" in einem Schultyp einzugehen,
wo dieser - in allgemeinbildenden Schulen (HS, AHS) die durchgehende Präsenz
auf der Stundentafel gewährende - äußere Schutz nicht gegeben erscheint, kurz
wo die "Geographie" sich aufgrund ihrer eigenen Potenz - ohne der
Notwendigkeit die "Wirtschaftskunde"
tatsächlich integrieren zu müssen - behaupten
muß !
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