Ch. SITTE: Entwicklung des Unterrichtsgegenstandes Geographie, Erdkunde, Geographie u. Wirtschaftskunde an allgemeinbildenden Schulen in Österreich nach 1945. Dissertation an der Grund- u. Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. 1989, 2 Bde

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Kap. 3. DIE ÄNDERUNGEN DURCH DAS SCHULORGANISATIONSGESETZES,

             SCHOG 1962 -  DIE  UMWANDLUNG  EINES  SCHULFACHES

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3.1 ZUM UMFELD DER VERÄNDERUNG:                 zu  Kap 3.2:  Die Entscheidung für "Geographie u. Wirtschaftskunde"

In der rückschauenden Betrachtung und Beurteilung ist es unverkennbar, daß seit der Mitte der fünfziger Jahre die Bildungspolitik in Österreich in Bewegung geraten ist ( BURGSTALLER F., LEITNER L.: 1987, S.22). Ins Vorfeld des Schulgesetzwerkes 1962 (In.: BGBl. Nr. 242 v. 25.7.1962) gehören die 4 Tagungen der "Ständigen Pädagogischen Konferenz" (1955, 1956, 1958 und 1961), die BMin. DRIMMEL am Beginn seiner Ministerschaft für Schulgesetzverhandlungen eingerichtet hatte, die damals aber zunächst scheiterten. BURGSTALLER/LEITNER nennen als Hauptthemen dieser Beratungen bei der 1.Tagung: "Überlastung des Schülers", bei der 2.: "richtige Nutzung der Unterrichtszeit und Lernarbeit des Schülers - ferner Staatsbürgerliche Erziehung", bei der 3.:"Schule und Volksbildung - Fünftagewoche in der Schule und wiederum Staatsbürgerliche Erziehung" ( vgl. in PÄDAGOG. MITT. = Beilage z. VdgBl.d.BMUK 3/1958, 4. Tagung ebenda 2/1962)), bei der letzten 4. Tagung : "Sicherung des Unterrichtsertrags - Zeitgeschichte" (ebenda, S.31). Diese offiziellen Spuren zeigen, was auch durch Interviews des Autors dieser Zeilen mit involvierten Spitzenleuten wie die in Pension sich schon befindlichen Proponenten der Wirtschaftskunde an Allgemeinbildenden Schulen Dir. Hofrat Dr. H. KLIMPT und Ministerialrat Dr. E. KUTSCHERA (siehe dazu später in dieser Arbeit), sich verfestigte, daß die für die Erweiterung unseres Schulfachs zu "Geographie und Wirtschaftskunde" entscheidenden Überlegungen und Vorarbeiten außerhalb dieser offiziellen Gremien erfolgten.

ENGELBRECHT (1988, S.479) sieht im 4.Band seiner "Geschichte des Österreichischen Bildungswesens" für den Abschluß des großen historischen Schulkompromisses weniger das Erkennen pädagogischer Notwendigkeiten und wirtschaftsbezogener Argumente als für den raschen Abschluß der Schulgesetze letztlich treibende Kräfte, sondern vor allem juristische Zwänge - die lückenhafte Rechtsstaatlichkeit des Schulwesens - aber auch parteipolitische Erwägungen der beiden großen politischen Lager.

Unmittelbar - quasi als Signal - den endgültigen Schulgesetzverhandlungen vorangegangen war der, nach Verzögerungen im Frühjahr 1960 als Vertragstext fertiggestellte Konkordatsabschluß ( DERMUTZ S.:1983, S.31), der allen, die an einen guten Ausgang der Schulverhandlungen glaubten, wieder starken Auftrieb gab (NEUGEBAUER: 1972,S.329). Die, die katholische Kirche betreffenden Regelungen wurden zum integrierenden Bestandteil der Schulverhandlungen (ebenda, S.331).

Der Ausgang der Nationalratswahlen 1959 (die SPÖ - Sozialistische Partei Österreichs - wurde zur stimmenstärksten und nur aufgrund der Wahlarithmetik nicht zur mandatsstärksten Partei) brachte Unruhe in die Reihen der ÖVP (Österreichische Volkspartei - gemeinhin als "Schwarze" tituliert), für die nun eine Periode der "Reformer" begann. Unter BMin. Dr. H. DRIMMEL setzte sich bei der ÖVP mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass bei den bestehenden Mehrheitsverhältnissen eine uneingeschränkte Durchsetzung ihrer schulpolitischen Forderungen nicht möglich sei, sodaß sich innerhalb der ÖVP eine deutliche Kompromißbereitschaft erhöhte ( DERMUTZ S.:1983, S.32).

Im Unterschied zu der gleichfalls gegen Ende der fünfziger Jahre entstandenen "Sozialpartnerschaft" ( 1957 Errichtung der Paritätischen Kommission f. Lohn u. Preisfragen; 1962 des Lohnunterausschusses, 1963 des Beirats f. Wirtschafts- u. Sozialfragen) die aus ihrer Existenz legitimiert, kein Eingießen in ein Gesetzeswerk erfuhr -  sieht ENGELBRECHT (ebenda, S.480) in der von den Großparteien eingegangenen "Bildungspartnerschaft" ein komplexes, von Gesetzen bestimmtes Ganzes. Das Mißtrauen war von Anfang an groß und hatte auch letztlich die SPÖ veranlaßt, Abänderungen der getroffenen Regelungen durch die Bindung an eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat von vornherein zu verhindern. NEUGEBAUER (1972,S.333) schrieb dies einem Vorschlag des damaligen Justizministers Dr. Ch.Broda (einem "linken" Exponenten der SPÖ) zu, der die Abänderung des Art. 14, Abs.10 des Bundesverfassungsgesetzes vorgeschlagen hatte.  Die der Proporzdemokratie eigenen Kultur der Konfliktregelung "im gütigen Einvernehmen" wurde damit legistisch auf parlamentarischer Ebene verstärkt, das Parlament auch per Verfassungsgesetz gezwungen, ausschließlich Kompromißlösungen zu verabschieden (DERMUTZ: 1983, S.37f). Dadurch aber hatte sich die SPÖ in ihrer (zukünftigen - also auch dann als sie ab 1971 unter BK Dr. Kreisky alleine mit einer Mehrheit regieren konnte -) Schulpolitik gleichsam selbst ausmanövriert. Sie hat die Situation von 1962 für den Rest des Jahrhunderts festgeschrieben - eine Situation, in der sie eben die zweitstärkste Partei war; in der sie offenbar nicht hoffte, jemals bestimmende Kraft der Republik zu werden (A.PELINKA: 1985,S.33).

Bis 1962 war Bildungspolitik der SPÖ im Schulbereich eine grundsatzorientierte Oppositionspolitik; ab 1962 ist sie zur pragmatischen Defensivpolitik geworden. Mit 1962 ist die Schere zwischen den offiziellen Zielen und dem, was die SPÖ tatsächlich bildungspolitisch erreichte, deutlich zu erkennen (ebenda,S.30).

Seither beschränkt sich eine weiterentwickelnde Schulpolitik auf Schulversuche, deren Umsetzung in konkretere Formen vom Wohlwollen (oder Kompromiss / Junktim mit) der ÖVP abhängig war und ist.

Seither ist die Schulpolitik der SPÖ vor allem eine Politik der Schulversuche, die ein Bewußtsein fördern sollen, solche Grundsätze mehrheitsfähig zu machen (A.PELINKA: 1985, S.32). Man sieht dies 1989 aktuell in der Frage der Zukunft zweier Schulen der 10-14jährigen in städtischen Ballungsräumen (Austrocknung der Hauptschule als Folge der 10.SchOG.-Novelle 1987) und den Wiener Schulversuch "Mittelschule" (siehe dazu im letzten Kapitel in dieser Arbeit - diesen "populären" Namen verwendet man in der Regel für Hauptschulstandorte).

1962 im Juli haben die Gesetzesbeschlüsse in schulpolitischer, schulrechtlicher und pädagogischer Hinsicht die Neuordnung und zugleich die Orientierungspunkte für die weitere Entwicklung des österreichischen Schulwesens festgelegt (BURGSTALLER/LEITNER: 1987, S.23). Kernstück dieses Bündels von erstmals für a l l e Schulbereiche gleichermaßen gültigen Gesetzen war das (SCHOG) Schulorganisationsgesetz  (In: BGBl. Nr. 242, v. 25.7.1962 ): vgl. www.bmuk.gv.at/gesetze/index.htm bzw. bei der Gesetzesdatenbank www.ris.bka.gv.at/auswahl/ (hier auch alle Lehrplantexte abrufbar)

Das I. Hauptstück des Gesetzes enthält "Allgemeine Bestimmungen über die Schulorganisation" unter denen dem "Zielparagrahen" (Aufgabe der österreichischen Schule) sowie den Bestimmungen über die Gliederung und die allgemeine Zugänglichkeit der Schulen, über die Gestaltung der Lehrpläne sowie über Schulversuche besondere Bedeutung zukommt (ebenda, S.24).

Das II. Hauptstück enthält besondere Bestimmungen über die Schulorganisation und behandelt hierin die einzelnen Schulbereiche und deren Aufgaben, die konkrete Organisationsformen, Aufnahmsvoraussetzungen, Definition der Lehrpläne und der Abschlüsse, Bestimmungen über Klassenschülerzahlen, Lehrer und Schulleiter (ebenda, S.24).

Ein eigenes Schulpflichtgesetz in diesem Gesetzespaket erhöhte die allgemeine Schulpflicht auf 9 Jahre - was einerseits die Gründung eines neuen Schultyps, des Polytechnischen Lehrgangs (auf den später noch eingegangen werden wird) und die Wurzel für die Ende der sechziger Jahre erfolgenden Diskussion um ein Schulzeitvolksbegehren legte.

Von 1945 bis 1962 hatten wir die klassische Gliederung nach Volks-, Haupt- und Sonderschulen sowie Mittelschulen.

Mit dem SCHOG 1962 erfolgte die Zusammenfassung in allgemeinbildende Schulen mit gleichzeitiger Gliederung in allgemeinbildende Pflichtschulen (APS) und allgemeinbildende höhere Schulen (AHS = Gymnasien). (LEITNER L.:1975, S.36). Daneben besteht das in sich stark nach Typen und Abteilungen gegliederte Schulwesen der berufsbildenden Schulen (berufsbildende Pflichtschulen = Berufsschulen, ferner berufsbildende mittlere- und -höhere Schulen mit Matura, wie den Typen HTL, HAK, HLA ...)

Die äußerer Reform ließ die vier Hauptformen des allgemeinbildenden höheren Schulwesens, die ungleichen Schülerzustrom aufwiesen (Realgymnasium 65%, Gymnasium 17%, Realschule 12%, Frauenoberschulen 6% - alle Zahlen, auch die folgenden aus H. ENGELBRECHT 1988, hier von S.482) zusammenrücken und aneinander angleichen, wobei sie z.T. ihr traditionelles Profil einbüßten.

Einheitlich bestanden seither die AHS-Typen "Humanistisches Gymnasium", "Neusprachliches Gymnasium", "Realistisches Gymnasium", (unterschiedliche Schwerpunkte legende Zweige der) "Realgymnasien" und als neue selbstständige Oberstufentype (besonders den ländlichen Raum) das um ein Jahr längere "Musisch-pädagogische-Realgymnasium" (letzteres als Nachfolgerin der Lehrerbildungsanstalten - wobei mit den Schulversuchen für pädagogische Akademien 1966 - 1.SchOG-Novelle 1965 - begonnen wurde). Als durch die 5. SchOG-Novelle 1975 die in Schulversuchen erprobte Pflichtschullehrerausbildung an den Pädagogischen Akademien (als Kompromiß zur alten sozialdemokratischen Forderung nach hochschulmäßiger Ausbildung aller Lehrer - vgl. bei SCHNELL H. 1974, S. 25 u. 31) gesetzlich fundiert wurde, wurden die "MuPäds" in nunmehr vierjährige, selbstständige "Oberstufenrealgymnasien"(ORG)umgewandelt - dies blieben sie auch, als in der 11.SchOG-Novelle 1988 ansonsten nur mehr drei gymnasiale Typen festgelegt wurden: "Gymnasium","Realgymnasium", "Wirtschaftskundliche Realgymnasium" (siehe dazu im Kap.7).

 

Die größte Veränderung aber erfolgte im Bereich der Hauptschulen. Dieser Schultyp war zunächst der zahlenmäßig größte "Gewinner" der Reform. Der in zwei leistungsmäßig unterschiedlichien Zügen strukturierte Schultyp begann - besonders in den westlichen österreichischen Bundesländern war hier ein großer Nachholbedarf - die Volksschuloberstufen zu ersetzen.

1964/65 besuchten noch 53,6% , 1973/74 schon 73,8 % eines Altersjahrgangs diesen Typ. Das Anwachsen der HS-Schülerzahlen hielt bis Ende der 7oer Jahre auf Kosten der VS-Oberstufen an.

Die AHS-Unterstufe besuchten vergleichsweise 1964/65 14,3 %, 1973/74 19,7 % der Schülerpopulation (alle Zahlen aus ENGELBRECHT: 1988, S.493). Besaßen 1965 erst 29,9% der Hauptschulen I. und II.Klassenzüge , so waren solche 1971 bereits in 87 % aller Hauptschulen eingerichtet. Noch imposanter ist das Wachstum, betrachtet man die Zahl der HS-Standorte:

1960/61 erst 850 Schulen, 1978/79 schon 1.157 und 1985/86 1.218 Schulen - was ein Abflachen der Wachstumsphase andeutet (Zahlen ebenda, S.494). In die als Abschluß der Pflichtschulzeit neugeschaffenen Polytechnischen Jahrgang ( in 2.SchOG-Novelle BGBl. Nr. 173/1966) gingen 1966/67 bereits 34 % eines Altersjahrgangs (ebenda, S.498).

Für das Schulfach "Erdkunde" (in HS) bzw. "Geographie" (Gymnasien) brachte das Schulgesetzwerk 1962 die einschneidenste Änderung seit 1907/1909 (der Konstituierung als eigenständiges Unterrichtsfach in diesen beiden Schultypen). Mit der Umbenennung in "Geographie und Wirtschaftskunde" erhielt das Schulfach nicht nur eine neue Bezeichnung, sondern auch einen neuen Bildungsund Unterrichtsauftrag (W.SITTE: 1982, S.181): Ihm lag die Überzeugung zugrunde, daß heute sowohl politisches wie auch persönliches Leben ohne Kenntnis des Ökonomischen kaum zu verstehen sei. In einer immer komplizierter werdenden demokratischen Industriegesellschaft mit ihren vielfältigen wirtschaftlichen Sachverhalten und Verflechtungen müsse die Schule versuchen, die Strukturen und Prozesse sowie Kräfte dieses Bereiches den Heranwachsenden aufzuhellen und ihn solchermaßen für ökonomische Fragen zu sensibilisieren. Ein Gesellschaftssystem, das den einzelnen immer wieder aufruft, über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Pläne und Maßnahmen mitzuentscheiden, ist auch verpflichtet, dafür zu sorgen, daß jeder darauf vorbereitet wird, solche Entscheidungen vernunftmäßig zu treffen (W.SITTE : 1982, S.181).

Wirtschaft und Gesellschaft wurden so durch die pragmatische Zuteilung zu zwei traditionellen Schulgegenständen endgültig zum Thema in den allgemeinbildenden Schulen.

Als der Lehrplan des Jahres 1963 auch die wirtschaftskundliche Bildung als eine der leitenden Ideen der Bildung konkretisierte, war bildungspolitisch ein entscheidender Schritt vollzogen worden: der Schritt nämlich, von einer neuhumanistischen Bildungsideologie, in der man von "vornehmer Fremdheit der Bildung gegenüber der Wirtschaft" sprechen konnte, zum Begriff einer Allgemeinbildung im Sinne individueller und sozialer Lebensbewältigung, welche ohne die Dimension wirtschaftskundlicher Grundbildung heute nicht mehr möglich ist (SRETENOVIC K.: 1979, S.7).

 

3.2 DIE ENTSCHEIDUNG FÜR "GEOGRAPHIE UND WIRTSCHAFTSKUNDE" IM VORFELD DER GESETZESERSTELLUNG

Das Schulfach "Geographie und Wirtschaftskunde" gehört heute zu den am besten fachdidaktisch dokumentierten Schulfächern in Österreich. Flossen "schulgeographische" Veröffentlichungen bis Anfang der 60er Jahre noch eher spärlich, so schwoll das diesbezügliche Schrifttum nach der gesetzlichen Umbenennung des Schulfaches stark an - besonders wegen der (noch später behandelten) gewaltigen Welle der Lehrerfortbildung. Praktisch alle Veröffentlichungen beschäftigen sich aber pragmatisch mit dem zukünftigen Tun der Lehrer und brachten keine oder nur wage, allgemein gehaltene Begründungen "warum es zu dieser Fachkombination gekommen ist" :

So steht nichts bei MinRat Dr. E.KUTSCHERA 1963 u.1964, aber auch nicht 1975;

ebenfalls nichts dazu im LP-Kommentar/Hauptschule ( Dir. A. MEIER 1966);

Der Salzburger Geographiedidaktiker Dir. Dr. F.PRILLINGER konnte "nur vermuten" (1964, S.422) und "nahm es als Tatsache hin" (ebenda, S.423), ebenso findet man auch auch keine nähere Begündung bei PILLINGER 1965 und 1969;

oder beim ehem. Wiener Stadtschulratspräsidenten und SPÖ-Bildungspolitiker Dr. H.SCHNELL (1964, S.9) nur kurz:" das Parlament hat der Schule die Aufgabe der Wirtschaftserziehung ausdrücklich übertragen..." und (1979, S.9) daß nach den fehlgeschlagenen Versuchen in der Zwischenkriegszeit, ab Mitte der 50er Jahre verstärkt die Frage gestellt wurde, ob Wirtschaftskunde und Sozialkunde als eigener Gegenstand konstituiert oder in den Fächerkanon der allgemeinbildenden Schulen eingeführt werden sollten. W. SITTE (1982, S.181) schreibt ebenfalls nur wage von "einem durch die Sozialpartner geförderten Bemühen".

Es erschien daher in dieser Grundlagenarbeit lohnenswert, den Spuren etwas weiter nachzugehen.

Da leider etwaige Akten des BMUKS im zentralen Staatsarchiv noch unter die Archivsperre fallen, wurden vom Verfasser dieser Arbeit 1987 Interviews mit unmittelbar in Kommissionen an der damaligen Reform Beteiligten getätigt: mit den schon oben genannten Hofrat Dir. Dr. H.KLIMPT, mit MinRat Dr. E. KUTSCHERA und dem ehemaligen Bildungspolitiker der SPÖ und ehem. Wiener Stadtschulratspräsidenten Dr. H. SCHNELL. Durch ihre Hinweisen konnten in der Folge verwischte Andeutungen bzw. Nuancenunterschiede (zB. zu MinRat Dr. O.TIMP: 1965) eingeordnet und die Lücke in der Literatur etwas geschlossen werden.

Bei den Interviews schälten sich zwei Strömungen heraus, die sich in der Folge gegenseitig bedingten und verschränkten:

A.) eine hauptsächlich von außerschulischen Akteuren - die aber in engen Kontakt mit für sozialwissenschaftliche Inhalte aufgeschlossenen und solche fordernden Schulmännern hielten - getragene;

B.) eine Dynamik, die sich aus der Gründung der neuen Schultypen "Polytechnischer Lehrgang" und "Musisch-pädagogisches-Realgymnasium" als selbstständige, ein Jahr längere Oberstufenform durch Vertreter der Pflichtschulabteilung im BMUK ergab (die mit einer ungleich stärkeren Durchschlagskraft den - von außen herangetragenen Forderungen an eine erweiterte Allgemeinbildung Rechnung trugen, als vergleichsweise die Verwaltung in den traditionellen höheren Schulen bzw. deren Ministeriumsabteilungen.)

Auf die Wurzeln der Forderungen ökonomische und gesellschaftliche Bereiche und Inhalte stärker in den allgemeinen Ausbildungsgang der Schule einzubinden, wurde schon im vorangegangenen Kapitel eingegangen. Auch KLIMPT erwähnte in seinem Interview die immer wieder dafür eintretende Stimme des (auch Wiener Arbeitsgemeinschafts-Leiter der Geographielehrer) späteren LSI Dr. K.FIGDOR (ebensolches schreibt auch ZECHNER L.1962, auf S.534).

E. KUTSCHERA, von dem einige der grundlegendsten Artikel zur Einbindung der Wirtschaftskunde in den Unterricht stammen, erwähnt (1964, S.407f) darüber hinaus H. MÜLLER, Landschulreferent in der Steiermark, der schon 1956 bei einer Veranstaltung des Pädagogischen Instituts Graz festgestellt hatte, daß der Lehrer auf Grund der Gegebenheiten gezwungen sei, das Problem der Wirtschaftskunde sozusagen privatim so weit zu lösen, als es für die schulpraktische Arbeit erforderlich sei. Schon damals stellte H. MÜLLER dem Sinn nach drei Fragen, mit denen sich der Lehrer im Zusammenhang mit wirtschaftskundlichen Unterricht auseinanderzusetzen hätte:

1. Welche Bedeutung hat die Wirtschaft für das menschliche Leben ?

2. Inhalt und Ausmaß der Wirtschaftskunde ?

3. Wieweit und wie kann Wirtschaftskunde in der allgemeinbildenden Pflichtschule berücksichtigt und vermittelt werden ?

Ebenfalls von H.MÜLLER zitiert KUTSCHERA (1975, S.302) folgende Attribute einer Wirtschaftskunde: 'lebensvoll', 'lebenspraktisch' und 'lebensnah'.

Nach Aussage KLIMPTs (in dem Interview 1987) wurde der damalige Präsident des Hauptverbands der österreichischen Sparkassen, W. SADLEDER so um die Mitte der 50er Jahre auf diese innerschulischen Bestrebungen aufmerksam und unterstützte sie. Wobei auch eine persönliche Freundschaft mit KLIMPT, der in der Betriebsrätefortbildung auch engagiert war, eine Rolle spielte).

KUTSCHERA hob in seinem Interview hervor, daß der für Schulentwicklung im Pflichtschulbereich zuständige (spätere Sektionschef) L. LANG von Sadleder zur jählich stattfindenden Tagung für Sparerziehung (des Hauptverbands der österreichischen Sparkassen) eingeladen worden ist. Dort wurde Wirtschaftskunde immer umfassend im Rahmen einer allgemeinen Wirtschaftserziehung gesehen. LANG (der die ganzheitliche Sicht der Pädagogik vertrat) soll dort hellhörig geworden sein, Verbindungen wurden geknüpft.

SADLEDER (1966, S.9f) formulierte das Interesse der Sparkassen mit folgenden Worten:

Daß Schule und Sparkassen ... zusammenarbeiten, ist kein Zufall.

... Die Sparkassen wurden vor 150 Jahren in Europa als humanitäre, heute würden wir sagen sozialpolitische, vielleicht auch wirtschaftspädagogische Einrichtungen gegründet. Was wir in der Wirtschaftserziehung tun müssen, nämlich nicht nur zu informieren, sondern auch zu einer bestimmten Haltung führen, das haben die Sparkassen, die ja nicht gewöhnliche unternehmerische, sondern gemeinnützige Institutionen darstellen, von Anbeginn zu tun gehabt. (S.10:)...so haben wir Sparkassen uns schon vor Gesetzwerdung der neuen Schulorganisation der stärkeren Berücksichtigung der wirtschaftlichen Belange im Unterricht der modernen Schule angenommen. Selbst auf die Gefahr hin, dadurch nicht gerade populär zu sein , muß ich Ihnen gestehen, daß wir nicht ganz unschuldig waren an dem Ausbau des Gegenstandes Geographie und Wirtschaftskunde. Freilich hatten wir keine Ingerenz auf die Art und Weise, wie das Wirtschaftliche in der Schule verankert werden soll, besser gesagt: stärker verankert werden soll als früher, aber wir haben doch lebhaft reklamiert, daß es geschehen möge. (S.12:) Maßgebend ist der § 2 des Schulorganisationsgesetzes 1962, der, wenn ich so sagen darf, an die Stelle des § 1 des Reichsvolksschulgesetzes 1869 getreten ist. In diesem § 2 wird generell die Aufgabe der österreichischen Schule ... klargestellt. In dieser, gegenüber 1869 wesentlich umfangreicheren Ausführung heißt es zum Schluß unter anderem: 'Die jungen Menschen sollen durch die Schule befähigt werden, am Wirtschafts-  und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.' SADLEDER sah dies dadurch verankert, daß Wirtschaftskunde einerseits erstmals dadurch ein allgemeines Unterrichtsprinzip sei, und zweitens in einem Fachgegenstand als Name und Inhalt auftrete. Methodisch forderte er von der Wissensvermittlung über wirtschaftliches Denken eine Erziehung zum richtigen Verhalten anzustreben (SADLEDER: 1966, S.17). Hiernach schloß er den Kreis durch das Argument der Sparerziehung, das immer schon ein pädagogisches Anliegen der Sparkassen gewesen ist. Auf einer bei SCHNELL, 1964 S. 15 abgedruckten Veranstaltungsliste des PI-Wien - in Verbindung mit der Zentralsparkasse (heute Bank Austria ) kann man folgenden für mögliche Querverbindungen aufschlußreichen Vortrag finden: O. Lindvall: Erfahrungen der schwedischen Sparkassen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Bildungsarbeit !

KLIMPT meinte in seinem Interview, daß SADLEDER damit zum "Rammbock" für die Entwicklung ab Beginn der 60er Jahre wurde.

Unterstützt und koordiniert wurden diese Bemühungen mit den Landesschulinspektoren aus den Bundesländern, er nannte dabei namentlich Wien (H. SCHNELL), Niederösterreich (H. KÄFER), Steiermark (F. THALLER, H. MÜLLER), aber auch durch den Geographen und Direktor der Salzburger Lehrerbildungsanstalt F. PRILLINGER, der später als einziges Mitglied sowohl der AHS-Unter- als auch Oberstufenkommission beigezogen worden ist und damals auch als einer der ganz wenigen Österreicher Kontakt zum deutschen Schulgeographenverband hatte.

Gewichtige offizielle Unterstützung signalisiert ein Artikel des Präsidenten des Wiener Stadtschulrates L. ZECHNER, der im Laufe des Jahres 1962 in der offiziellen pädagogischen Zeitschrift "Erziehung und Unterricht" erschien, worin dieser sich für die damals zu forcierenden Bereiche Zeitgeschichte und Wirtschaftskunde einsetzte, dabei aber besonders auf die wichtige Basisfunktion der Wirtschaftskunde für eine politische Erziehung hinwies. In seinem Beitrag taucht das erste Mal - noch in der Form einer Frage - die später von KLIMPT immer wieder in seinen Vorträgen verwendete griffige Formel "vom Verstehen des Wirtschaftsteils einer Zeitung" (ZECHNER: 1962, S.533) auf.

Bei einer am Anfang der 60er Jahre im Wiener 'Haus des Sports' abgehaltenen Enquette (wo es auch um staatsbürgerliche Erziehung ging) hielt Klimpt auf Wunsch von Sadleder ein Grundsatzreferat . KLIMPT forderte dort 'Wirtschaftspolitik bei der Länderkunde exemplarisch unterzubringen ... die Länderkunde sei der Mutterboden für die Beurteilung für uns interessanter Dinge ... die Länder als Experimentierfeld politischer Gruppen in der Politik ' (nach Interviewaussagen von KLIMPT 1987). Hier wird klar der Anspruch und die didaktische Vorstellung der Verbindung mit dem Schulfach "Geographie" ausformuliert.

Widerstand aus dem BMUK kam von einem Ministerialrat der Gymnasialabteilung Dr. O.TIMP (dieser Meinung war auch E. KUTSCHERA in seinem Interview 1987, auf das noch eingegangen wird). TIMPs Position (Lehrer f. Gg/H) war die, wirtschaftliche Stoffe eher bei der Geschichte anzuhängen, z.B. Agrarpolitik bei den Gracchen.

Aus einem später verfaßten Artikel, kann man viel über den, auch grundsätzlichen politischen Unterschied zwischen Klimpt (SPÖ) und TIMP - ÖVP (1965) herauslesen. TIMP meint darin (S.45) z.B. nachdem er über den Begriff "Industriegesellschaft" polemisiert hatte:

Es ist daher unsere erste Aufgabe, als Lehrer dafür zu sorgen, daß die Jugend sich der gottgewollten und echten Souveränität des Menschen gegenüber der Schöpfung, also auch gegenüber Wirtschaft und deren Kräften, bewußt wird. Und weiter unten der auf starken Naturdeterminismus hinweisende Satz: Er (der Schüler) wird damit befähigt werden, fremde Länder, Völker und Staaten, ihre Kultur und ihr Wirtschaftsleben aus deren Lage und natürlichen Beschaffenheit heraus zu verstehen (!). Oder auf S.48:

Auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten hängen stark mit den landwirtschaftlichen Voraussetzungen zusammen. Daß zum Beispiel Fabriken auf den unfruchtbaren und deshalb billigen Böden des Steinfelds und der Schotterterrassen der Alpenvorlandsflüsse entstanden, ist kein Zufall... Und in einer Einschätzung des Bildungsauftrags (ebenda,S.48): In der Unterstufe wird sich daher nicht viel gegenüber der bisherigen Situation ändern. Erst der Oberstufe billigt er zu 'echte wirtschaftliche Probleme besprechen zu können'(S.49).

Aus diesen Aussagen TIMPs und KLIMPTs  viel stärker sozialwissenschaftlich-politisch bildenderer Position (vergl. sein bei Jugend&Volk herausgekommenes späteres Schulbuch für den Polytechnischen Lehrgang 1971) in einer der (im Vergleich zu seinen vielen wirtschaftskundlich-fachlichen Beiträgen im Rahmen der Lehrerfortbildung) seltenen schriftlichen fachdidaktischen Äußerungen (KLIMPT: 1975 S.16), wo er auf die Behandlung der praxisnahen Wirtschaftspolitik Wert legte, ist die Differenz in den Ansätzen leicht erkennbar (Klimpt war neben dem Schuldienst auch Leiter der Bildungsabteilung der Arbeiterkammer und Lehrbeauftragter an der damaligen Hochschule für Welthandel - heute WU).

Erkennbar aber auch der Gegensatz TIMPs zu Vertretern wie E.KUTSCHERA  (danach Ministerialrat im BMUK, kam als Volksschullehrer und späterer HS-Lehrer über ein Studium der Wirtschaftswissenschaften in diesen Bereich), die zwar gleichfalls politisch von der ÖVP-Seite stammten, aber - das wurde schon oben gezeigt - bestrebt waren, über die Wirtschaftsgeographie weit hinausgehendes ökonomisches Wissen - auch und gerade im Pflichtschulbereich, praxisorientiert zu verankern.

KUTSCHERA stellt in dem, dem Autor dieser Arbeit gegebenen Interview fest, daß es erstmals zu einer konkreten Verankerung des Unterrichtsbereichs "Wirtschaftskunde" in dem, durch das SCHOG 1962 neu geschaffenen Polytechnischen Lehrgang gekommen war (Vorläufige Hinweise zur gestaltung in VdgBl. 8/1964, 1966 Grundsatzartikel von KUTSCHERA/MÜLLER H. mit Lehrstoffverteilungsvorschlag S. 475-478 in "Erziehung&Unterricht H. 7) . Hier konnte, weil keine "traditionellen Claims" bei dieser Neukonstruktion eines Schultyps berücksichtigt werden mußten, ein Zentrierfach "Sozial-und Wirtschaftskunde (einschließlich Zeitgeschichte)" (SWZ) neu geschaffen werden.

Hinter diesem sind - so Aussage KUTSCHERAs - die Sozialpartner im Begutachtungsverfahren geschlossen gestanden. Da für diesen neuen Schultyp zunächst auch keine ausgebildeten Hauptschullehrer vorhanden waren, also die Fortbildung allgemein akzeptiert war, gab es auch dort von Seiten der Lehrerschaft, die anderswo (HS oder Gymnasien) auf traditionellen Fachinhalten beharrenden Kräfte nicht. Trotz des schon erwähnten "Arbeitsplans" für SWZ (in KUTSCHERA/MÜLLER H.:1966, S.475ff) spricht eine allgemeine Schilderung der Anfangszeit im "POLY" (WIESER: 1987, S.236), von einer "völligen Hilfsmittelnacktheit und in autodidaktischer Stoffaufbereitung geländesuchender Lehrer" Der LP war mit Vdg. v. 20. Juli 1966/BGBl. 174 festgesetzt worden; für das erste definitive Schuljahr erfolgte erst mit 17. Nov. 1966 (!) vom BMUK ein Schreiben mit Durchführungsmaßnahmen und erst 1969 wurde den Lehrern eine Lehramtsprüfung angeboten - Wieser ebenda.).

KLIMPTs Schulbuch "Wirtschaftskunde für den Polytechnischen Lehrgang (1971) war lange Zeit ein Beispiel für die gelungene Verbindung der neu zusammengefügten Fachbereiche. Festzustellen ist aber (bei KUTSCHERA/MÜLLER etwas stärker als bei KLIMPT), daß ausgehend von einer mehr oder minder stark gewichteten Chronologie, bedingt im Ablauf der Zeitgeschichte, wirtschaftsund sozialkundliche Stoff(-felder) dazu gruppiert wurden (vergl. auch bei HAUSER R.:1970).

Dieser inhaltlich neue Schritt aber war wiederum Muster für die Gestaltung der rein wirtschaftskundlich strukturierten 9.Kl. im "Geographie und Wirtschaftskundelehrplan" des Musisch-pädagogischen Realgymnasiums (MUPÄD - LP in VdgBl. II. Sondernummer, 55. Vdg. v. 15.8.1966) . L. LANG (1965, S.385) schrieb dazu, daß es die rechte Koalitionspartei war, die den Gedanken einer Zubringeranstalt zu den Pädagogischen Akademien aufgriff und die linke Koalitionspartei dafür gewann; beide zusammen aber dann als Aufgabe einerseits die Funktion als Zubringeranstalt zu den pädagogischen Akademien, andererseits aber auch die Vorbereitung für Sozialberufe nannten. Damit ergab sich diese Sonderform des allgemeinbildenden höheren Schulwesens in ihrer stärker auf bestimmte Berufe ausgerichteten Gestalt. Da die ersten Klassen als reine Übergangsklassen für die, großteils aus ländlichen Volksschuloberstufen und Hauptschulen kommenden Schüler anzusehen waren, wurde im MUPÄD die Hochschulreife erst nach fünf Jahren erreicht. LANG beschreibt das MUPÄD als modernen Schultyp, der sozialwirtschafts- und rechtskundliche Begriffe und Stoffgruppen im Unterricht verstärkt brachte (ebenda, S.392).

Da aber - so H. SCHNELL in seinem mir gegebenen Interview - sich herausstellte, daß einerseits ein großer Teil der MUPÄD-Schüler nicht an die Pädagogischen Akademien weiter gingen (und umgekehrt diese einen großen Teil ihrer Studenten aus den traditionellen AHS bezogen), wurde letztlich Mitte der siebziger Jahre die alte SP- Vorstellung eines selbstständigen Oberstufen-Realgymnasiums (ORG) nun mit nurmehr 4 Stufen an die Stelle der MUPÄDs gesetzt.

Durch die, von der Pflichtschulabteilung im Bundesministerium für Unterricht (vor 1962 "Abteilung für das niedere Schulwesen und seine Abteilungen" ) geschaffene neue Oberstufenform und ihren, für GW Präzedenzcharakter besitzenden Entscheidungen, war - laut KUTSCHERA - der Widerstand der Gymnasialabteilung im BMUK (gemeint ist MR O.TIMP) gebrochen.

R.NITSCHE und E.KUTSCHERA brachten für die 9. Klasse 1968 dann auch ein eigenes Wirtschaftskundeschulbuch heraus, das in der Folge auch als "Hilfsbuch" für die anderen AHS-Typen approbiert worden ist (eine 7.,veränderte Aufl. wurde noch 1984 gedruckt).

Anfang März 1962 gab es auch eine Besprechung am Geographischen Institut der Universität Wien auf Wunsch des Salzburger Schulgeographen Prillinger , unter Vorsitz Univ.Prof. Dr. H. Bobeks  (im Protokoll v. 7.3.62 sind außer den Universitätsprofessoren BOBEK, SPREITZER, SCHEIDL ferner die Gymnasiallehrer Bernleitner, Blasoni, Hasenmayer (später wichtiger LSI), Lechleitner, Lechner und der Salzburger Dir. Prillinger genannt.

 

Folgende drei Punkte standen in dieser "Krisensitzung" zur Debatte:

1. Welche Gefahren bestehen hinsichtlich einer Verdrängung des Faches Geographie aus den obersten Klassen der allgemeinbildenden Mittelschulen ?

2. Wie ist unsere Ansicht dazu ?

3. Was soll geschehen ?

Prillinger referierte über Pläne der Schulverwaltung, daß Geographie in einer zukünftigen 9.Klasse nicht mehr vorgesehen wäre. Dort solle ein Fach "Zeitgeschichte" eingeführt werden, auch der Physik wolle man mehr Stunden einräumen.

Als Begründung würde (so Aussage des Schulgeographen Blasonis) verwendet, dass Geographie nichts neues bringe, sondern nur Vokabelwissen vermittle. Seiner Meinung nach, trügen dabei auch die derzeit (1962) bestehenden Lehrpläne und das Fehlen von Schulbüchern in der 8.Kl. Gymnasium (Maturaklasse) Schuld an veralteten Methoden und der Vernachlässigung neueren Wissensgutes durch viele Lehrer.

Zum 2. Tagesordnungspunkt schlug Univ.Prof. Dr. Spreitzer für das Fach Geographie in der obersten Klasse die Bezeichnung "Geographische Gegenwartskunde" vor, Univ.Prof.Dr. Bobek für die 8.Klasse

die Fassung "Geographische Österreichkunde".

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Für einen Lehrplan der Oberstufe ( heute würde man sagen S II) sollte vorgeschlagen werden:

5.Kl.: "Die Erde als Natur-, Siedlungs- u.Wirtschaftsraum"

6.Kl.: Außereuropa

7.Kl.: Europa ohne Österreich

8.Kl.: Geographische Österreichkunde

9.Kl.: Geographische Gegenwartskunde

In der 5.Klasse sollte, wie besonders Lechner betonte, die Allgemeine Geographie als Vorbereitung für die oberen Klassen behandelt werden ... Um die 6.Klasse zu entlasten, sollte der Lehrstoff möglichst an konkreten Beispielen gestaltet werden.

Der Stoff der 8.Kl.: Geographische Österreichkunde - müsste parallel mit dem Fach Historische Österreichkunde gestaltet werden.

In die Geographische Gegenwartskunde der 9.Kl. müssten Wirtschafts- u. Sozialgeographie eingebaut werden. Hier müßte ein Überblick über staatliche, wirtschaftliche und soziologische Probleme der Gegenwart vermittelt werden.

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Dazu - so meinte der Gymnasiallehrer Lechner- müßte die Ausbildung der Mittelschullehrer an der Universität entsprechend ausgebaut werden.

Man wollte ferner die Vorschläge konkreter formulieren und für eine Landesschulinspektorenkonferenz zur Vorlage bringen. Man wollte dazu auch Kontakt mit den Ordinarien in Innsbruck und Graz aufnehmen. Ferner wollte man an die Industriellenvereinigung und die Bundeswirtschaftskammer herantreten, um sie für das Problem des Geographieunterrichts zu interessieren.

In dem Schreiben an die Landesschulinspektoren (16.März 1962) präzisierten Spreitzer und Bobek ihre Vorstellungen zur 8.und 9. Klasse wie folgt:

... Die Geographische Österreichkunde der 8.Klasse sollte wesentlich mehr als bisher auch die Bevölkerung in ihrer sozialen Gliederung und die sich daran knüpfenden Fragen sowie der Wirtschaft im besonderen Hinblick auf die zu erwartenden oder bereits eingeleiteten Umschichtungen behandeln und dabei mehr als bisher neben naturräumlichen auch die gesellschaftlichen Bedingungen berücksichtigen.

Die Geographische Gegenwartskunde der letzten Klasse würde die Gegenwartsprobleme in ihren räumlichen Aspekten und Auswirkungen zu behandeln haben und damit eine wertvolle Ergänzung und Unterbauung des zeitgeschichtlichen Unterrichts bieten. ...

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Wie die späteren Lehrpläne zeigten, war aber in den Bildungspolitisch entscheidenden Greminen schon die Entscheidung für ein Schulfach "Geographie und Wirtschaftskunde" gefallen.

Sowohl in den später erstellten LPn für die 9.Klasse des "Musis-pädagogischen Realgymnasiums" (siehe Kap.3.3.3) als auch in der 9.Klasse AHS-Oberstufe (siehe Kap. 3.3.4) gab es dann zwar einen von Geographen unterrichteten Gegenstand, die Stoffinhalte jedoch waren überwiegend wirtschaftskundlicher Natur  .

 

Anmerkung: Noch einmal - 1969/70 engagierte sich Univ. Prof. Hans BOBEK : forciert von Kreisen der Industriellenvereinigung und Bundeswirtschaftskammer waren in den letzten Monaten der ÖVP-Alleinregierung (BK J. Klaus 1966-70) Forderungen nach einem eigenen Gegenstand "Sozia- und Wirtschaftskunde" laut (u.a. vorangetragen vom Vertreter der juridischen Fakultät Univ. Prof. Tomandl und dem Politikwissenschafter Univ.Prof H. Schneider. Die Geographen - zB. beim 3. Wirtschaftskundeseminar des Hauptverbands der Sparkassen (Dez. 1969 in Bad Kleinkirchheim) sprachen sich mit Unterstützung von dort anwesenden Uni-Professoren für die Beibehaltung der Fächerkombination "Geographie und Wirtschaftskunde" aus. BOBEK, TROGER, FLIRI wurden daraufhin zu Sitzungen des BMUK im Frühjahr 1970 eingeladen. Nach dem politischen Umschwung (erst Bruno Kreiskys Minderheitenregierung unter Duldung der FPÖ, nach einem Jahr begann die SPÖ-Alleinregierungszeit) verloren die VÖI u.a. ÖVP-Kreise (wohl aus Angst von einer "rot" eingefärbten Politischen Bildung das Interesse an dieser Forderung. Geschaffen wurde aber damals noch vom ÖVP Unterrichtsminister A. Mock ein "Referat für Wirtschaftserziehung und Politische Bildung" - besetzt mit E. Kutschera.

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Für die Zuordnung der "Wirtschaftskunde" zum Schulfach "Geographie", sind Aussagen KUTSCHERAs nach, primär schulische Gründe maßgebend gewesen: Nach der von Bundesminister DRIMMEL am Anfang der Schulgesetzverhandlungen ausgegebenen Devise vom "Sichten und Lichten", war es allen in der Schulverwaltung Tätigen klar, daß daher keine neuen Gegenstände in Frage kämen. Die Zuordnung der "Sozialkunde" zum Fach "Geschichte" und die Zuordnung der "Wirtschaftskunde" zum Fach "Geographie" (mit Ausnahme eben der LPe der beiden oben angeführten neuhinzugekommenen Schulstufen 9 u.13 ) fußte also auf rein pragmatischen Entscheidungen.

KLIMPT meinte dazu, daß später wohl auch etwas die "Angst" der konservativ ausgerichteten Behörde vor der neu errichteten "roten" Wirtschaftswissenschaftlichen Universität in Linz und ihren möglichen Abgängern als potentielle Lehrer in den AHS, mitgeschwungen haben kann.

Natürlich versuchte man - aber eher erst in zweiter Linie - auch eine theoretische Begründung für diese Zuordnung zu geben:

Alle Autoren (KUTSCHERA 1963, 1964; PRILLINGER 1964, 1966; O.TIMP 1965; A.MEIER 1966; H.KÄFER 1967 (um nur einige der ersten Publikationswelle zu nennen) merkten die Nähe, aber auch den Unterschied zur Wirtschaftsgeographie an: Bei der Wirtschaftskunde stehe der Mensch im Mittelpunkt, sie vermittle auch nicht nur volkswirtschaftliches Wissen, sondern solle das Verständnis wecken für die Erfordernisse der Wirtschaft, Erziehung zum wirtschaftlichen Denken leist, als Planer wirtschaftlicher Vorgänge und als Verbraucher.

KUTSCHERA (1964) führt in seinem grundlegenden Artikel viele Überschneidungen, aber auch völlig ohne Raumbezug zu behandelnde Bereiche an (S.408ff ): Grundlagen und Voraussetzungen der Wirtschaft; Verbrauch; wie ein Unternehmen wirtschaftet; Erzeuger und Verbraucher treffen sich auf dem Markt; das Unternehmen im Spiegel seiner Bilanz; Geld; wie wirtschaftet und welche Leistung bringt der Staat; wie die Volkswirtschaft funktioniert; wer bestimmt, wieviel Geld wir verdienen; Wachstum und Schwankungen der Wirtschaft; Wirtschaftsordnungen.

Zur Begründung der Verbindung von Geographie und Wirtschaftskunde zitierte er den Geographen R. GEIPEL (1960, S.7) :

War sie (gemeint ist die Erdkunde) auf dem bildungspolitischen Feld doch bisher stets im Angriff und hat Pionierarbeit für das Eindringen von Fragen der Gegenwart in die Schule geleistet.

Sie war Schrittmacherin für wirtschaftskundliche, soziologische und politische Probleme und es ist ihr immer wieder gelungen, Stoffgebiete und Lebensbereiche als Neuland in der Schule 'gesellschaftsfähig' zu machen und einzubürgern, die bisher im Bildungsplan völlig ignoriert worden waren.

F.PRILLINGER (1964) stellt im gleichen Heft von "Erziehung und Unterricht" (der offiziellen Pädagogischen Zeitschrift), dem die "Landschaft" des Geographen gegenüber (S.426). Über den Menschen als Träger der Wirtschaft gelangt er zu der Wirtschaftslandschaft (S.428). Dazu führt er SPETHMANNs Ideen zur "Dynamische Länderkunde" (1928) an, wo ja auch - in Kritik an der auf Richthofen fußenden statischen Betrachtung (1928, S.117), dynamische Kräfte wie "technische-, finanzielle Kräfte, Krisen und Konjunkturen, die Kraft der Persönlichkeit, ferner politische und religiöse Kräfte, Lebensunterhalt und Kulturhöhe" (ebenda S.72ff) zur länderkundliche Verknüpfung in die Betrachtung einbezogen werden . Diese Verbindung in "Geographie und Wirtschaftskunde" sah F.PRILLINGER (1964) über weite Strecken als natürlich und selbstverständlich an. Nur - führt er weiter aus - darf die Gefahr nicht übersehen werden, die bei der Vielseitigkeit der Geographie leicht eintreten könnte, daß sich das Interesse dem wirtschaftlichen Sachgebiet zu - und von der Landschaft zu stark abwende. Abschließend aber zitiert er, die Herausforderung des neuen Unterrichtsgebiets aufnehmend, den Pädagogen Richard Meister mit dem Satz "Lehrfächer sind nicht Auszüge aus den Wissenschaften, sondern Konzentrationsfelder didaktischer Arbeit" (ebenda,S.429). Schon immer habe nämlich die Schulgeographie im Sinne einer Verdichtung oder erziehlich-unterrichtlichen Zusammenfassung ( = Konzentration) Inhalte aus vielen Nachbargebieten mit hereingenommen (ebenda).

Am Ende dieses Beitrags begrüßte PRILLINGER (er war ja einer der ganz wenigen Schulgeographen in Österreich, der regelmäßige Kontakte in die BRD pflegte (vgl. seine zwei Beiträge über die Veränderung des Schulfaches in der Geogr. Rundschau 1963, S. 67f und 1965 S. 248) - wohl aus den dort gemachten Erfahrungen), dass die neuen Lehrpläne kein eigenes Fach Wirtschafts- oder Gesellschaftskunde eingeführt haben (ebenda, S.429).

Kritik an der - seiner Meinung nach zu geringen Hereinnahme der Soziologie (sie sei ja über die Sozialkunde der Geschichte zugeordnet worden) brachte hingegen (der spätere Salzburger Ordinarius für Geografie) E. LENDL (1967,S.135) in einem Vortrag, den er im Rahmen einer Tagung zur wirtschaftskundlichen Lehrerfortbildung gehalten hat:

Wenn heute auf Grund der Lehrpläne dem Unterricht in Geographie eine Wirtschaftskunde und dem Unterricht in Geschichte eine Sozialkunde angegliedert wird, so ist diese Tatsache einerseits erfreulich, zugleich aber auch wieder enttäuschend, zeigt sie doch, daß nur eine recht oberflächliche Kenntnis der wahren Problemstellungen der modernen Geographie durch die Anfügung des Faches Wirtschaftskunde, das ja nur ein Auszug aus der Volkswirtschaftslehre ist , erworben werden kann. Gewiß, die Volkswirtschaftslehre und sei sie auch nur in knappster Form dargeboten, gehört in den Unterricht, jedoch nicht als Anhängsel der Geographie... Noch enttäuschender ist, daß die Soziologie nicht an die Geographie, sondern an die Geschichte angegliedert worden ist. Gerade die moderne Geographie, die Kulturgeographie, braucht mehr denn je die Soziologie, die Lehre vom Menschen in seiner sozialen Ordnung, gibt es doch heute kaum einen Zweig der Kulturgeographie, der nicht auch unter einem sozialgeographischen Aspekt gesehen werden muß... Die Gegenwartsnähe der Geographie läßt aber die Verbindung mit Sozialkunde in besonderer Weise als wünschenswert und notwendig erscheinen (LENDL:1967,S.134).

Vom leider viel zu früh verstorbenen Geographen W. STRZYGOWSKY (1965) (Prof. für Geographie an der Hochschule für Welthandel in Wien - von ihm stammen auch die Wirtschaftskarten im "Österreichischen Mittelschulatlas" Verlag Hölzel 1961) stammte das einzige in den MÖGG (Mitteilungen der österreichischen Geographischen Gesellschaft) von Hochschulseite zu dieser Erneuerung beigesteuerte praktische Beispiel, Erd- und Wirtschaftskunde, wie er schrieb synoptisch, d.h. in einer Integration bei der Bereiche zu verschmelzen. Auf diesem Weg weitere beispielgebende Impulse für die Abnehmer (Lehrer) zu setzen, folgte ihm leider niemand von den Hochschulgeographen.

Andere Vertreter der Hochschulgeographie standen dem Bereich der "Wirtschaftskunde" ablehnend gegenüber, wie ein Zitat "die Wirtschaftskunde ist die Totengräberin der Geographie" ( in der Zeitschrift GW-Unterr. Heft 1/1978, S.15) verdeutlichen soll.

Dies dokumentiert eine, von Anfang an deutliche Distanz mancher, die Lehrer an den höheren Schulen ausbildenden Kräfte, gegen die Umorientierung des Schulfaches. Eine Distanz, die sich in der Folge auch auf die Universitätsausbildung auswirkte.

Diese Erweiterung der Bildungs- und Lehraufgabe des Schulfaches in Österreich, brachte rückblickend betrachtet, in den Allgemeinbildenden Schulen (HS und AHS) die stundenmäßigen Existenzsicherung - gegenüber der stundenreduzierenden Tendenz in der Mehrzahl der europäischen Staaten, allen voran der BRD.

Andererseits konzentrierte sich der an Neuerungen interessierte Teil der Lehrer ganz darauf, sich in die neuen Bereiche der Wirtschaftskunde einzuarbeiten, deren Inhalte aber im Unterricht oft unverbunden in einer weiterhin tradierten länderkundlichen Geographie gestellt wurden. Fachdidaktische Reformbestrebungen außerhalb Österreichs wurden bis weit in die 70er Jahre vom Großteil der Lehrer und Didaktiker praktisch nicht zur Kenntnis genommen (SITTE Ch./H. WOHLSCHLÄGL: 1985, S.170).

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