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Berliner Tageblatt Kopf

Morgen-Ausgabe
Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung
Nr. 190.
42. Jahrgang
Mittwoch
16. April 1913

Literarische Rundschau

Literarische Rundschau
Beilage zum Berliner Tageblatt
Mittwoch, den 16. April 1913
No. 190 - 4. Beiblatt

Albert Ehrenstein Besprechung Betrachtung

Franz Kafka. "Betrachtung". (Leipzig, Ernst Rowohlt.)
      Ein seltsam großes, seltsam feines Buch eines genial-zarten
Dichters. Franz Kafka ist - im Gegensatz zu anderen Pragern -
ein diskreter Herr. "Wer ihn erkennt, der grüßt." Nie erfährt
man in seinen Skizzen, daß "Sie" Emma heißt, und "Er" Erwin.
Kein "Er" und keine "Sie" wird vorgespiegelt, keine fleischliche
Erfüllung wird sachgemäß und "spannend" vorbereitet und exakt
durchgeführt. Kafka ist diskret, er benutzt das Alphabet nur an-
deutungsweise, er enthält sich vorsätzlich und aus Reinlichkeit der
Dicke des Gefühls. Er war immer seelenweit davon entfernt, ein
Buch, ein im Grunde genommen ja doch immer wieder nur haus-
backenes Buch zielbewußt zu schaffen, zu administrieren, gewaltsam
organisierend aufzuhäufen. Zeichen dieses wie jedes der Menge
verlorenen Meisterwerkes bleibt es immer, daß es unbesprechlich ist,
unzugänglich der Analyse eines Glosserichs, für sich dasteht und
eine hübsche Weile unantastbar auf sich beruht, beharrt - und
doch von so morbider Art ist, als könnte es der nächste Wind
mitnehmen.
      Kafka gibt kleine Handlungen ab, kleine Affekte, zart und scheu,
wie die seltenen Gebilde eines verstandesmäßig unverwüstbaren
Traumes. Sein edel gehaltenes Buch verfliegt in sanft-tollen
Arabesken, in Randbemerkungen eines verschwindensbereiten, un-
auffindbaren Zimmerherrn und Aftermieters des Lebens. Ge-
schrieben werden so depressive (und doch leuchtende) Bücher nur in
politisch nicht expansiven, in nicht schlagenden Staaten.
Kafka behauptet sich sozusagen nur seinem Notizbuch gegen-
über. Was er spricht, klingt wie geflüstert von einer der wenigen
lieben, stillen, an die Wand gedrückten Existenzen, wie sie sich nur
noch in den vom österreichischen Reichsrate vertretenen Königreichen
und Ländern finden. Eine seltsam lyrische Prosa, pointenlos, witz-
ferner als die Peter Altenbergs. Ein merkwürdig großes, merk-
würdig feines Buch eines genial-zarten Dichters!
Albert Ehrenstein

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Letzte Änderung: 15.5.2023werner.haas@univie.ac.at