Ich
stand auf dem Balkon meines Zimmers. Es war sehr hoch, ich zählte die
Fensterreihen, es war im sechsten Stockwerk. Unten waren Rasenanlagen,
es war ein kleiner von drei Seiten geschlossener Platz, es war wohl in
Paris. Ich gieng ins Zimmer hinein, die Tür
ließ ich offen, es schien
zwar erst März oder April zu sein, aber der Tag war warm. In einer Ecke
stand ein kleiner, sehr leichter Schreibtisch, ich hätte ihn mit einer
Hand heben und in der Luft herumschwingen können. Jetzt aber setzte ich
mich zu ihm, Tinte und Feder war bereit, ich wollte eine Ansichtskarte
schreiben. Ich griff unsicher ob ich eine Karte hätte in die Tasche, da
hörte ich einen Vogel und bemerkte als ich herumsah auf dem Balkon an
der Hausmauer einen Vogelbauer. Gleich gieng ich wieder hinaus, ich
mußte mich auf die Fußspitzen heben, um den Vogel zu sehn, es war ein
Kanarienvogel. Dieser Besitz freute mich sehr. Ich drückte ein
Stückchen grünen Salats, der zwischen den Gitterstäbchen steckte,
tiefer hinein und ließ den Vogel daran knabbern. Dann wandte ich mich
wieder dem Platz zu, rieb die Hände und beugte mich flüchtig über das
Geländer. Jenseits des Platzes in einem Mansardenzimmer schien mich
jemand mit einem Operngucker zu beobachten, wahrscheinlich weil ich ein
neuer Mieter war, das war kleinlich, aber vielleicht war es ein
Kranker, dem die Fensteraussicht die Welt ist. Da ich in den Taschen
doch eine Karte gefunden hatte, ging ich ins Zimmer um zu schreiben,
auf der Karte war allerdings keine Ansicht von Paris, sondern nur ein
Bild, es hieß Abendgebet, man sah einen stillen See, im Vordergrund
ganz wenig Schilf, in der Mitte ein Boot und darin eine junge Mutter
mit ihrem Kind im Arm, es war
Quelle Text: Franz Kafka:
Zur
Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt am
Main 1994, S. 86-87
Quelle Ansichtskarte: Original. "K. Raupp pinx. Abendgebet ..." ca. 1910