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[An die Eltern] E Nr. 27

[Wien, Klinik Prof. Hajek, 16. April 1924]
 


Liebste Eltern, schon ziemlich lange ohne Nachricht von Euch. Das Wetter ist sehr schön geworden, das Fenster den ganzen Tag offen. Mit den Einspritzungen habe ich heute zum zweitenmal ausgesetzt, was auch zur Verschönerung der Tage beiträgt. Wenn Ihr einen guten Rat annehmen wollt, so trinkt viel Wasser, ich habe darin einiges versäumt und jetzt darf ich es nicht nachholen. Das Leben hier gefällt mir sonst auch weiter recht gut, es ist ein allerdings sehr kleiner und schwacher nachträglicher Ersatz für das militärische Leben, das mir gefehlt hat. Um ½ 6 steht man auf, um ½ 7 ist alles fertig, freilich ist bei der Waschschüssel kein großes Gedränge. (Fließendes warmes und kaltes Wasser ist im Zimmer.) Und auch sonst mag manches vom Militär verschieden sein, z.B. der Schlaf der Leute. Das Essen, soweit ich daran teilnehme, ist immer ausgezeichnet zubereitet, auch ist immer eine gewisse Auswahlmöglichkeit. Herzl. Grüße

Eueres F

Klosterneuburg-Kierling

Sanatorium Dr Hoffmann

Inzwischen ist das große Unternehmen gereift. Franz geht Samstag ins Sanatoryum. Es ist 25 Minuten von Wien. Der Arzt wird zur Behandlung hinkommen. Ich war heute dort, ein prachtvolles Balkonzimmer im Süden gewonnen. Es ist eine Waldgegend, liegt wunderbar. Ab sonnabend Adresse: Sanatoryum Dr Hoffmann. Klosterneuburg-Kierling.




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Staroměstská náměstí č 6/III posch. Über der Adresse der Zusatz 16/4 1924, offensichtlich von der Hand der Mutter. Frankierung: 1400 österreichische Kronen.

Undatiert; Zuordnung nach dem Poststempel: 16.IV.24, bestimmt.


1] trinkt viel Wasser, ich habe darin einiges versäumt: Hier beginnt anscheinend Kafkas tragischer Kampf gegen den Durst in den letzten Wochen seines Lebens (vgl. Nr. 31 und 32).


2] Klosterneuburg-Kierling: Die Angabe zum Sanatorium findet sich an zwei Stellen.


3] Samstag: D. h. am 19. April 1924. Vgl. auch den Brief an Robert Klopstock, den Brod mit 18. April 1924 datiert: "Samstag will ich, wenn kein besonderes Unglück dazwischen fährt, in Dr. Hoffmanns Sanatorium, Kierling b. Klosterneuburg, Niederösterreich." (Br, 481) Dora Diamant setzte gemeinsam mit Klopstock durch, dass Kafka im Hinblick auf die unzureichende Fürsorge in Prof. Hajeks Klinik "in die häusliche Pflege entlassen" wurde (RH, 112). Er wurde jedoch nicht nach Hause, sondern in Dr. Hugo Hoffmanns Sanatorium in Kierling gebracht.


4] Der Arzt wird zur Behandlung hinkommen: Zu den Besuchen Wiener Ärzte bei Kafka in Kierling vgl. Bi, 179; RH, 138-140, und Nr. 29 und 32.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at