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[An die Eltern] E Nr. 22
3 Liebste Eltern, vielen Dank für Brief
und Sendung. Leider ändert sich ab heute meine Adresse. Mit dem Hals
werden sie hier nämlich nicht fertig, Ich muß Alkoholinjektionen
in den Nerv bekommen, das macht nur ein Specialist, ich übersiedle
daher nach:
des Prof. Dr M. Hajek
Wien IX Lazarethgasse [sic] 18
Dumm ist, dass diese Injektionen einigemal wiederholt werden müssen,
der Aufenthalt dort daher einige Wochen dauern wird. Daß ich dort
gleich aufgenommen werde, verdanke ich der Fürsprache des Arch.
Leopold Ehrmann, der wie immer auch diesmal äußerst lieb
zu mir war. Ich hätte sonst in irgendeines der wahnsinnig teueren
Stadtsanatorien gehen und einen Specialisten kommen lassen müssen.
So wird es in dieser Hinsicht wenigstens erträglich sein und das für
die paar Tage hier hinausgeworfene Geld verschmerzen lassen.
Natürlich hätte ich diese ganze Unternehmung ohne
D. nicht machen könne, so aber ging es, wenigstens bis jetzt,
ganz leicht. Ich werde regelmäßig schreiben, aus Wien kommt
die Post schneller, ein Vorteil. Herzl. Gr.
F
D. läßt grüßen, sie packt ein.
Bitte, laßt Max Brod meine neue Adresse sagen.
Wenn es irgendwie möglich wäre, dass der
Onkel oder sonst jemand herkommt, wäre es gut.
Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich
der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Staroměstská náměstí
č 6/III posch. Vor der Anrede von Kafka mit der Ziffer 3 versehen.
Über der Frankierung der mit Bleistift geschriebene Zusatz: "Eine traurige
Karte", offensichtlich von der Hand der Mutter. Frankierung: 1500 österreichische
Kronen.
Undatiert; Zuordnung nach dem Inhalt des Briefes ("Leider ändert
sich ab heute meine Adresse.") und nach dem Poststempel, l0.IV.24,
bestimmt.
1] Universitätsklinik: Das Wort davor - Klinik
- gestrichen.
2] Lazarethgasse 18: Kafka führt hier irrtümlich
eine falsche Hausnummer an; richtig ist: Lazarettgasse 14, wie er in einem
Brief aus dieser Zeit an Max Brod schreibt (vgl. RH, 106). Kafka wurde
in der Klinik von Prof. Hajek am 10. April 1924 aufgenommen und untersucht
(vgl. Foto der Krankheitsbeschreibung vom selben Tag in RH, 111-112). Zum
Vergleich eine Mitteilung an Robert Klopstock, die Brod irrtümlich
auf den 13. April 1924 datiert: ". . . ich übersiedle in die
Universitätsklinik des Prof. Dr. M. Hajek, Wien IX Lazarettgasse 14.
Der Kehlkopf ist nämlich so angeschwollen, dass ich nicht essen
kann, es müssen (sagt man) Alkoholinjektionen in den Nerv gemacht
werden, wahrscheinlich auch eine Resektion. So werde ich einige Wochen
in Wien bleiben." (Br, 480)
3] Arch. Leopold Ehrmann: Architekt, Projektant,
geh. 1886 in Strakonitz (Strakonice), wahrscheinlich ein Verwandter der
Familie Kafka; Kafkas Vater war mit fünf Geschwistern in Osek bei
Strakonitz aufgewachsen, seine Schwester, Franz' Tante Julie, verheiratete
Ehrmann, hatte in Strakonitz gelebt; ein mögliches Verwandtschaftsverhältnis
ist schwer zu bestimmen, da die jüdischen Matrikel der Gemeinde Strakonitz
aus jener Zeit nicht im Prager Staatsarchiv aufbewahrt werden. Leopold
Ehrmann war ein Neffe von Dr. Salomon Ehrmann, Professor für Dermatologie
an der Wiener Universität (laut Mitteilung von Frau Langerová
im RH, 144), der offenbar auf dessen Ersuchen bei Prof. Hajek intervenierte,
so dass Kafka unverzüglich in dessen Klinik aufgenommen wurde.
4] Natürlich hätte ich diese ganze Unternehmung
ohne D. nicht machen können: Dora Diamant hat Kafka die ganze
letzte Zeit aufopferungsvoll beigestanden. Max Brod schreibt in diesem
Zusammenhang: "Für die Fahrt vom Sanatorium nach Wien war nur
ein offenes Auto zur Verfügung. Regen und Wind. Während der ganzen
Fahrt stand Dora aufrecht im Wagen, suchte Franz mit ihrem Leib gegen das
schlimme Wetter zu schützen." (Bi, 178)
5] Max Brod: Er erfuhr von Kafkas Übersiedlung
in die Wiener Klinik am selben Tag, wie aus seinem Tagebuchvermerk hervorgeht:
"Alle Schrecknisse überboten am 10. April . . . durch die Nachricht,
dass Kafka vom Sanatorium Wiener Wald zurückgeschickt
wurde. Wiener Klinik. Kehlkopftuberkulose festgestellt. Fürchterlichster
Unglückstag." (Bi, 178)
6] Wenn es irgendwie möglich wäre: Zusatz
von Dora Diamant.
Letzte Änderung: 28.4.2016 werner.haas@univie.ac.at