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[An die Eltern]
Liebste Eltern nur paar Zeilen in Eile, Max, der mich
telephonisch angerufen hat, wird nachmittag zu mir kommen und den Brief
wohl mitnehmen. Freilich wozu jetzt noch an Porto sparen, da ich ja in
Überfülle von Geld plätschere und nicht weiß, ob ich
mich darüber freuen oder trostlos sein soll darüber, dass
ich die Pension genau genommen schon für April von Euch beziehe, dass
ich à-conto- Zahlungen auf nicht bestehende Schulden angenommen habe und
jetzt auch noch die ganze nicht bestehende Schuld einkassieren soll, dass
ich ferner von Ottla 100 K bekomme, ich weiß nicht wofür (vielleicht
weil ich vom Telephon geschrieben habe, aber ihr Telephongespräch
war das allergeringste in der Rechnung, ein ganz unbedeutender Betrag)
und dass ich schließlich von Elli stillschweigend 500 K bekomme,
das Geschenk ja trotzdem auffange, aber doch gern wüßte,
was es bedeutet und gar nicht nachfragen will, weil ich mich vor Carl
schäme, der hier unschuldig in eine solche Geldausgabe gezogen wird
und weil ich mit dem Ganzen doch, nachdem ich Věras Mitgift
angebissen habe, jetzt auch noch nach der von Gerti die Fänge
ausstrecke.
Aber jetzt von anderem: Das Paket ist heute angekommen, schön und
reich. Ohne Rücksicht auf Tageszeit und Sättigung habe ich michdaran
gemacht. Die Äpfel scheinen diesmal unverletzt, nicht ganz so die
Eier, die Äpfel lagen wohl zu schwer auf ihnen. Vielen
Dank für die sich nähernde Wollweste, ist das
aber nicht allzuviel Arbeit, stört es nicht beim Kartenspiel, im Nach-dem-Tisch-liegen,
im Zeitungs-Lesen, im Mit-der-Věra-spielen und allen Deinen 1000 Beschäftigungen,
die ich durch meine Paketbedürfnisse um weitere 1000 vermehrt habe.
Die Anstalt verlangte jeden Monat von mir eine Bestätigung
der Polizei, dass ich da bin, ich habe ihnen geschrieben, dass
ich sie jeden Monat schicken werde. Aber vielleicht ist diese Forderung
doch nur formal, denn im Jänner haben sie, wie Du schriebst, das Geld
doch geschickt, ohne dass ich die Bestätigung beigebracht habe.
Vielleicht tun sie es im Feber wieder, schreib mir bitte darüber;
tun sie es nicht, schicke ich dann die Bestätigung.
Du klagst über Materialmangel fürs Schreiben, soll ich Dir in
Eile nur ganz oberflächlich, wie es mir im Augenblick einfällt,
nachhelfen? Also wenn Du einmal nichts zu schreiben weißt, dann schreibe
- und es wird immer äußerst interessant für mich sein:
Was Ihr an dem Tag zu Mittag und zu Abend gegessen habt, was Du vormittag
gegessen hast, was der Vater gemacht hat, vormittag, nachmittag, ob er
auf mich gezankt hat (hat er nicht gezankt, dann den Grund angeben, hat
er gezankt, dann kenne ich den Grund), wann und welche Kinder bei Euch
waren, was Elli Valli Ottla erzählt hat, was das Frl.
macht, der Onkel, was Du liest, was der Vater liest
u.s.w. Nun, da hast Du schon einen riesigen Brief für jeden Tag. Ich
aber muß jetzt noch ein wenig an die Sonne und dabei von
Steglitz Abschied nehmen.
Herzlichste Grüße Euch und allen
F
Aber vielleicht gehören die 500 K gar nicht mir, vielleicht ist es
ein Misverständnis [sic], es wäre ja auch zu sonderbar, warum
sagt nicht Elli ein Wort dazu.
Brief, 1 Doppelblatt, 22 x 14,2 cm, 3 Seiten mit Tinte beschrieben.
Undatiert; Zuordnung nach dem Inhalt bestimmt ("Ich aber muß
jetzt noch ein wenig an die Sonne und dabei von Steglitz Abschied nehmen.").
Am 28. Januar 1924 teilt Kafka Felix Weltsch und auf einer undatierten
Postkarte Lise Kaznelson mit (Br, 476), dass er ab 1. Februar eine
neue Adresse habe: "Berlin-Zehlendorf, Heidestraße 25-26, bei
Frau Dr. Busse." Vgl. auch Anm.10.
1] Max: Es handelt sich wahrscheinlich um einen
Besuch von Max Brod, den dieser in der Biographie (Bi, 177) erwähnt.
Nach Prag zurückgekehrt, machte Brod offensichtlich Onkel Siegfried
auf den Ernst von Kafkas Gesundheitszustand aufmerksam (vgl. Nr. 16, Anm.1).
2] trotzdem: Dahinter gestrichen: sehr gern.
3] Carl: Karl Hermann, Ellis Ehemann (vgl. Nr. 1,
Anm. 13).
4] Věras... Gerti: Vgl. Nr. 1, Anm.2 und 21.
5] die Äpfel lagen wohl zu schwer auf ihnen:
Es folgen 27 Wörter, die einzeln durchgestrichen wurden, von Ausnahmen
abgesehen bis zur Unleserlichkeit.
6] die sich nähernde Wollweste: Vgl. Nr. 14,
18 und 19.
7] Die Anstalt verlangte... eine Bestätigung:
Vgl. Nr. 11, Anm. 3. Am 18. Januar 1924 mahnt der Vorstand der ArbeiterUnfall-Versicherungs-Anstalt
bei Franz Kafkas Eltern die zur Überweisung seiner Pension notwendigen
Formalitäten an (siehe das Konzept der Zuschrift vom 18.1.1924 im
LA PNP, FK, Kart.-Nr.2, das Kafkas Gesuch vom 20.12.1923 unter der lfd.
Nr. 1152/1923 beigefügt war).
8] das Frl.: Vgl. Nr. 3, Anm.9.
9] der Onkel: Vgl. Nr. 9, Anm.6.
10] von Steglitz Abschied nehmen: Der Weggang von
Steglitz war nicht freiwillig. In einem Brief, den Max Brod auf Mitte Januar
1924 datiert, teilt Kafka Brod mit: ". . . dass wir aus unserer
wunderschönen Wohnung am 1. Feber, als arme zahlungsunfähige
Ausländer vertrieben werden." (BRK II, 450) Am 26. Januar 1924
schreibt er an Robert Klopstock: "Augenblicklich haben wir Wohnungssorgen,
eine Überfülle von Wohnungen, aber die prachtvollen ziehn unerschwinglich
an uns vorüber und der Rest ist fragwürdig." (Br, 474)
Und an Felix Weltsch am 28. Januar: "Ich tue vielleicht Unrecht...,
in das Haus eines toten Schriftstellers zu ziehn, des Dr. Carl Busse (1918
gestorben), der zumindest zu Lebzeiten gewiß Abscheu vor mir gehabt
hätte . . . Ich tue es trotzdem, die Welt ist überall voll Gefahren,
mag diesmal aus dem Dunkel der unbekannten noch diese besondere hervortreten.
Übrigens entsteht merkwürdiger Weise selbst in einem solchen
Fall ein gewisses Heimatgefühl, welches das Haus verlockend macht.
Verlockend macht allerdings nur deshalb, weil ich in meiner bisherigen
schönen Wohnung als armer zahlungsunfähiger Ausländer gekündigt
worden bin." (Br, 475)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at