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[An die Eltern] E Nr. 11
Liebste Eltern, der große Brief ist also verloren gegangen,
immer nur Deine großen Briefe, ich weiß nicht was die Post
gegen mich hat. Dafür kam gestern die Karte und heute das Paket, vielen
Dank für das Viele, Angekündigte und Geschickte. übel wurde
vermerkt, dass die Sendung vor dem 10.Jänner
kam, aber der Inhalt hat wieder versöhnt, tatsächlich aber habe
ich noch von der alten Butter genug bis zum 10ten, sie hält jetzt
sehr gut, man muß sie immer erst herausreißen aus ihrer Verfrorenheit
hinter dem Fenster. Ja die Kälte ist kräftig, aber unter meiner
ausgesuchten leichten und warmen Daunensteppdecke ist warm, manchmal gibt
es sogar auf der Lehne eines Parkes hier in der Sonne einen warmen Augenblick
und mit dem Rücken an der Centralheizung ist es auch recht gut, gar
wenn man noch zum überfluß die Füße im Fußsack
hat. Freilich in Euerem Zimmer am Ofen ist es auch schön (außer
damals als Du Dich dort wärmtest vor der Operation).
- Heute kam der Antwortbrief von der Anstalt, sehr freundlich
mit netten Neujahrswünschen. Ich muß einen Vollmachtsbrief schicken,
auch einen kleinen Dankbrief an den Direktor schicken, zwei
kleine übersetzungenum die ich Pepa sehr bitte,
sie sind auch der Anlaß der heutigen Briefverschwendung. - Übrigens
zeigen sich jetzt nach Neujahr winzige Anzeichen einer Preisherabsetzung,
wenn nur die politischen Dinge nicht wieder dazwischenfahren, wozu sie
alle Lust zu haben scheinen. Die Stadtbahnfahrt nach dem Potsdamerplatz,
die vor Neujahr 1 K 20 kostete, kostet jetzt 80 h, ein Liter Spiritus,
vor Neujahr 6 K 40, kostet jetzt 3 K 60, weitere derartige Erscheinungen
habe ich leider nicht beobachten können, aber auch diese erfreuen
schon das geängstigte Herz, das ein Weilchen vorher bange geklopft
hat vor dem ausgehängtenSpeisezettel eines Winkelrestaurants, in dem
Wiener Schnitzel mit Spargel für 20 K angeboten waren. - Ich habe
Elli vor einiger Zeit paar Adressen geschickt, für den Fall, dass
sie etwas mit dem Jüdischen Frauenverband zu tun
hat, der jetzt Liebesgabenpakete nach Deutschland schickt. Sie hat mir
nicht geantwortet, wahrscheinlich hat sie mit dem Verband nichts zu tun.
Ich habe letzthin ein solches Paket gesehn, groß und reichhaltig
genug, eine wirklich ehrenwerte Leistung, aber doch trostlos, nur unbedingt
notwendiges und gerade solches, das wie Gries, Mehl, Reis hier gewiß
nicht teuerer ist als in Prag. Hätten sie doch von Euch gelernt Liebespakete
zusammenzustellen, freilich Euere Recepte wären etwas
zu teuer. - dass dem Onkel, der soviele Triescher
Winter durchgemacht hat, der Prager Winter zu kalt ist, ist merkwürdig.
Meran, das wäre nicht übel, vorläufig aber
bleibe ich hier, aber sehr neugierig bin ich, wie die Verhältnisse
dort sind. Sehr billig wird dort wohl jetzt nichts sein, denn da die Deutschen
bei ihren Inlandspreisen jetzt sehr gut reisen können, werden sie
gewiß, wie in Friedenszeiten Südtirol und den Gardasee überfüllen
und die Leute dort, die solange eine gute Saison haben entbehren müssen,
werden sich zu entschädigen suchen. Immerhin, spielen läßt
sich mit dem Gedanken. Herzlichste Grüße und wärmt Euch
schön bei einander /in welchem Zimmer sitzt Ihr am Abend?/
Euer F.
Brief, 1 Blatt, 22 x 14,2 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben.
Undatiert; Zuordnung nach dem Inhalt bestimmt ("Heute kam der Antwortbrief
von der Anstalt..."): Der Brief von Dr. Odstrčil, die Antwort
auf Kafkas Gesuch vom 20. Dezember 1923 wurde laut Archivunterlagen im
LA PNP, FK am 31. Dezember 1923 geschrieben (vgl. auch L, 81) und am 2.
Januar 1924 von Prag abgeschickt, traf also wahrscheinlich am 3. oder 4.
Januar in Berlin ein. Nach dessen Erhalt schickt Kafka Ottla einen Brief
mit dem Text zweier Dankschreiben an die Direktion der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt
sowie an Dr. Odstrčil und äußert die Bitte, Ottlas Ehemann
Josef David möge ihn wie üblich ins Tschechische übersetzen
(O, 147-151). Kafka sendet dann beide Briefe in tschechischem Wortlaut
am 8. Januar 1924 von Berlin ab.
1] vor dem 20. Jänner: Vgl. Nr. 9 und 10.
2] damals . . . vor der Operation: Kafkas Mutter
hatte sich ein Jahr vorher, wahrscheinlich im Januar 1923, einer schweren
Operation unterziehen müssen.
3] der Antwortbrief von der Anstalt: Kafkas Gesuch
vom 20. Dezember 1923 beantwortete Direktor Dr. Odstrčil am 31. Dezember:
"Herrn Dr. jur. Franz Kafka, Obersekretär i. R. der ArbeiterUnfall-Versicherungs-Anstalt
für Böhmen in Prag, z. Zt. in Berlin-Steglitz.
In Bezug auf Ihren Brief vom 20. ds. Mts. teilen wir Ihnen mit, dass
wir Ihrem Gesuch um Übersendung Ihrer Versorgungsbezüge unmittelbar
an Ihre Herren Eltern gerne entsprechen, falls Sie eine ganz einfache Erklärung
(ohne Wertmarke) übersenden, dass Sie Ihre Herren Eltern zu deren
Annahme bevollmächtigen.
Außerdem senden Sie bitte jeden Monat auch für mehrere Monate
- nach Ihrem Belieben - eine durch die dortige Polizeibehörde beglaubigte
Lebensbescheinigung, die mit dem ersten Tag oder einem der folgenden Tage
des Monats datiert sein muß, für den Ihnen die Pensionsbezüge
angewiesen werden sollen.
Falls Sie sich jedoch auf Dauer in Deutschland oder sonstwo im Ausland
niederlassen möchten, müßten Sie uns davon Kenntnis geben
und um die weitere Auszahlung Ihrer ungekürzten Versorgungsbezüge
ansuchen.
Gleichzeitig wünschen wir Ihnen, dass Ihr Gesundheitszustand
sich im anstehenden neuen Jahr möglichst bessere und dass Ihr
Aufenthalt am jetzigen Wohnort Ihnen wahrhaftig und dauerhaft von Nutzen
sein möge.
Prag, den 31. Dezember 1923.
Direktor: Unterschrift
(Die Kopie dieses Briefes, Kafkas Gesuch unter lfd. Nr. 1152/ 1923 beigefügt,
ist im LA PNP, FK, Karton-Nr. 2, hinterlegt.)
Zu Kafkas Gesuch vom 20. Dezember 1923 vgl. Nr. 2, Anm. 3, und Nr. 10,
Anm.4.
4] zwei kleine Übersetzungen: Die Texte beider
Briefe sind mit umfassender Erläuterung in Kafkas Brief an Ottla enthalten
(O, 152-153), den Binder und Wagenbach mit "1. Januarwoche 1924"
datieren, dessen Datum sich jetzt jedoch etwas genauer angeben läßt
(3.-4. Januar 1924): "Der Brief der Anstalt, den ich Dir verdanke,
ist sehr freundlich und gar nicht kompliciert, zwei kleine Übersetzungen
sind notwendig, diese: "Im Sinne der geschätzten Zuschrift der löblichen
Anstalt vom -, für die ich ergebenst danke, erkläre ich, dass
ich meine Eltern Hermann und Julie Kafka bevollmächtige meine Pensionsbezüge
in Empfang zu nehmen." Dann noch ein kleiner Dankbrief: "Sehr geehrter
Herr Direktor, erlauben Sie mir noch, sehr geehrter Herr Direktor, für
die günstige und so freundlich gefaßte Erledigung meines Ansuchens
persönlich von Herzen zu danken, insbesondere auch für die liebenswürdige
Aufnahme meiner Schwester und für die gütige Einsicht mit der
Sie die nach außen hin vielleicht etwas sonderbare nach innen hin
nur allzu wahre Geschichte meines letzten Jahres beurteilen.
Ihr herzlich ergebener"
Das wären die zwei Übersetzungen, sie sind nicht groß,
nicht wahr? (dafür war allerdings die vorige wohl eine schreckliche
Arbeit! Was soll ich aber armer Junge - das gilt sowohl mir als Pepa -
jetzt tun, nachdem ich nun schon einmal die Lüge meines prachtvollen
Tschechisch, eine Lüge, die wahrscheinlich niemand glaubt, in die
Welt gesetzt habe) und da sie nicht groß sind, könnte ich sie
bald haben?"
Beide Briefe in tschechischer Sprache, die Kafka am 8. Januar 1924 abschickte,
sind abgedruckt bei L, 81, der Brief an Direktor Odstrčil auf Deutsch
in nichtauthentischem Wortlaut, als Rückübersetzung aus dem Tschechischen,
unter HE, 649, FKAS 321.
Zwischen dem deutschen Wortlaut, der in dem Brief an Ottla enthalten ist,
und der tschechischen Fassung, die von Loužil abgedruckt wurde, gibt
es kleinere Abweichungen: In dem Brief an die Direktion ist der tschechische
Wortlaut umfangreicher, bei den Namen der Eltern ist deren Adresse ergänzt
und der abschließende Satz hinzugefügt worden: "Eine amtlich
beglaubigte Lebensbescheinigung sende ich regelmäßig zu."
Die tschechische Fassung des Dankschreibens an den Direktor ist stilistisch
abgeändert worden, die Übersetzer haben das Maß der Höflichkeit
ein wenig zurückgenommen, hinsichtlich der Bedeutung gibt es keine
Änderungen.
5] Pepa: Vgl. Nr. 6, Anm.3.
6] mit dem Jüdischen Frauenverband: Der Jüdische
Frauenverband, 1912 als einer der jüdischen Vereine in Prag gegründet
(vgl. z. B. BH I, 69), schickte in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg
Geschenkpäckchen für Arme und Waisen nach Deutschland. Zu Beginn
des Jahres 1924 teilt Kafka Max Brod mit, er habe seiner Schwester Elli
ein paar Adressen bedürftiger Menschen geschickt (BRK II, 451). In
den Schriften des Jüdischen Frauenvereins, hinterlegt im Archiv der
Hauptstadt Prag (Archivbestand Vereinskataster, Sign. XXII/216), gibt es
jedoch weder auf die Versendung von Liebesgaben nach Deutschland noch auf
die Tätigkeit einer Gabriele Hermann im Verein einen Hinweis.
7] Euere Recepte wären etwas zu teuer: Eine
ähnliche Äußerung Kafkas über eins dieser Päckchen
führt Brod in seiner biographischen Monographie an: "Da lag
es nun vor uns, totenernst, ohne das geringste Lächeln eines Täfelchens
Schokolade, eines Apfels oder dergleichen, so als ob es sagte: Jetzt lebe
noch ein paar Tage von dem Grieß, Reis, Mehl, Zucker, Tee und Kaffee
und dann stirb, wie es sein muß, mehr können wir nicht tun."
(Bi, 176)
8] dem Onkel: Vgl. Nr. 9, Anm.6.
9] Meran: Kafka war dort von April bis Juni 1920
zu einem Kuraufenthalt.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at