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An Robert Klopstock

[Berlin-Zehlendorf, Anfang März 1924]
 

Lieber Robert, nein, keine Reise, keine so wilde Tat, wir werden auch ohne das zusammenkommen, auf stillere, den schwachen Knochen entsprechendere Art. Vielleicht - eigentlich denken wir ernstlich daran - kommen wir bald nach Prag, käme ein Wiener Waldsanatorium in Betracht, dann gewiß. Ich wehre mich gegen ein Sanatorium, auch gegen eine Pension, aber was hilft es, da ich mich gegen das Fieber nicht wehren kann. 38 Grad ist zum täglichen Brot geworden, den ganzen Abend und die halbe Nacht. Sonst, trotzdem, ist es ja sehr schön hier, auf der Veranda zu liegen und zuzusehn, wie die Sonne an zwei der Schwere nach so verschiedenen Aufgaben arbeitet: mich und die Birke neben mir zu natürlichem Leben zu wecken (die Birke scheint Vorsprung zu haben). Sehr ungern gehe ich von hier fort, aber den Gedanken ans Sanatorium kann ich doch nicht ganz abweisen, denn da ich wegen des Fiebers schon wochenlang nicht außerhalb des Hauses war, im Liegen mich zwar genug stark fühle, aber irgendwelche Wanderungen noch vor dem ersten Schritt den Charakter der Großartigkeit annehmen, ist manchmal der Gedanke, sich lebend-friedlich im Sanatorium zu begraben, gar nicht sehr unangenehm. Und dann doch wieder sehr abscheulich, wenn man bedenkt, dass man sogar in diesen für die Freiheit vorbestimmten paar warmen Monaten die Freiheit verlieren soll. Aber dann ist wieder der stundenlange Morgen- und Abendhusten da und das fast täglich volle Fläschchen, - das arbeitet wieder für das Sanatorium. Aber dann z. B. wieder die Angst vor den dortigen, schrecklichen Essenspflichten.

Nun kam Ihr späterer Brief, Sie stimmen also zu, oder nur gezwungen? Es freut mich, dass Sie sich korrigieren und den Onkel nicht mehr einfach als "kalten Herrn" ansehn. Wie könnte auch Kälte einfach sein? Schon da es wahrscheinlich immer nur eine historisch erklärbare Erscheinung ist, muß sie kompliziert sein. Und dann: was ihn kalt erscheinen läßt, ist wahrscheinlich dies, dass er seine Pflicht erfüllt und das "Junggesellen-Geheimnis" hütet.

An Ihre Erzählungen von dem kranken Mädchen erinnere ich mich wohl. War sie es nicht, in deren Träumen auch Abraham umging? Viel habe ich an Sie gedacht beim Lesen von Holitschers Lebenserinnerungen, sie erscheinen in der "Rundschau", die zweite und dritte Fortsetzung habe ich gelesen. Zwar ist zwischen Ihnen und ihm gar keine unmittelbare Beziehung festzustellen, als eben Ungarn und das uns allen gemeinsame Judentum, aber ich halte mich gern an Örtlichkeiten fest und glaube aus ihnen mehr zu erkennen als sie zeigen. Übrigens hat H. seiner Meinung nach gar kein Ungartum in sich, er ist nur Deutscher, von solchen Budapestern haben Sie mir kaum erzählt. Sehr schön in den Erinnerungen das Auftauchen Verlaines, das Auftauchen Hamsuns. Mitbeschämend für ihn und den Leser die besondere Art seiner Judenklage. So wie wenn man in einer Gesellschaft stundenlang die Elemente eines gewissen Leids erörtert und weiterhin ihre Unheilbarkeit unter allgemeiner Zustimmung festgestellt hätte und nachdem alles fertig ist, fängt einer aus der Ecke über eben dieses Leid jämmerlich zu klagen an. Und doch schön, aufrichtig bis zu grotesker Jammerhaftigkeit. Trotzdem, man fühlt: es ginge noch weiter.

Bei mir kommen zur Verstärkung des Genusses noch "literarische" Jugenderinnerungen, das Aussaugen der Langenschen Verlagskataloge bis auf den Grund und immer von neuem, weil sie unerschöpflich waren und weil ich die Bücher, von denen sie handelten, meist nicht bekommen konnte und meist auch nicht verstand. Der Glanz von Paris und von Literatur, der für mich jahrelang um Holitscher und die Titel seiner Romane war, und nun klagt der alternde Mann die Not dieser ganzen Zeit aus sich heraus. Er war unglücklich damals, aber man denkt: wäre man doch einmal auch so unglücklich gewesen, man hätte es doch einmal in dieser Art versuchen wollen. Übrigens erklärt dort Hamsun - was offenbar nur um mich zu trösten, aber recht grob und ungeschickt erfunden ist -, dass ihm der Winter in Paris sehr zugesetzt habe, sein altes Lungenleiden sich wieder melde, er in ein kleines Sommersanatorium oben in Norwegen fahren müsse und dass Paris überhaupt zu teuer sei.


Nun kommt die Davos-Überraschung, wie schwer das alles ist und was für entsetzliche Summen ich für mich aus andern werde pressen müssen. Und Sie, Robert, klagen über die 1000 K. Was für ein verwöhnter, selbständiger, freier Edelmann Sie sind.


Nun werden wir uns ja wohl sehn, der Onkel schlug mir zwar vor, ich solle von hier direkt nach Innsbruck fahren, ich erklärte ihm aber heute, warum ich es vorziehen würde, über Prag zu fahren. Vielleicht stimmt er zu.




Holitschers: Arthur Holitscher, Romancier, Essayist und Reiseschriftsteller. "Lebensgeschichte eines Rebellen" erschien 1924 in Buchform, vorher, ab Januar 1924, in der "Neuen Rundschau". In der "Neuen Rundschau" hatte Holitscher, ab März 1912, auch über seine Reise nach Kanada berichtet, ein Werk, auf das Kafka immer wieder hinwies und aus dem er gern einzelne Stellen vorlas. Dieses Buch hat möglicherweise an der Konzeption von Kafkas "Amerika" mitgewirkt.

Hamsun gehörte zu den Autoren, die Kafka am meisten liebte. Vor allem schätzte er die beiden Reisebeschreibungen (Kaukasus, Türkei), ferner die ersten Bücher und "Segen der Erde".

Zum Folgenden sei bemerkt, dass Kafka sehr gern in Verlagskatalogen und Almanachen (Insel, S. Fischer, Georg Müller, A. Langen) las und die bloßen Büchertitel zum Ausgangspunkt von Phantasien machte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at