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[Stempel: Kierling, 20. April 1924]

[von Dora Diamant adressiert an:] Dr Max Brod Prag II Panska 12 Red. d. Prager Tageblatt

[Absenderangabe von Dora Diamant geschrieben:] Klosterburg-Kierling Sanatorium Dr Hoffmann Niederösterreich


Liebster Max, eben bekomme ich Deinen Brief, der mich ungemein freut, so lange schien es mir, hätte ich kein Wort von Dir gesehn. Vor allem verzeih den brieflichen und telegraphischen Lärm, der meinetwegen rings um Dich gemacht worden ist. Es war zum großen Teil unnötig, von schwachen Nerven veranlaßt (wie groß ich rede und habe heute schon einigemal grundlos geweint, mein Nachbar ist in der Nacht gestorben) und dann allerdings auch von dem bösen bedrückenden Sanatorium im Wiener Wald. Hat man sich einmal mit der Tatsache der Kehlkopftuberkulose abgefunden, ist mein Zustand erträglich, vorläufig kann ich wieder schlucken. Auch der Aufenthalt im Krankenhaus war nicht so schlimm, wie Du Dir ihn vorzustellen scheinst, im Gegenteil, in mancher Hinsicht war er ein Geschenk. Von Werfel habe ich auf Deinen Brief hin verschiedenes sehr Freundliches erfahren: Den Besuch einer ihm befreundeten Ärztin, die auch mit dem Professor sprach, dann hat er mir auch die Adresse des Prof. Tandler angegeben, der sein Freund ist, dann hat er mir den Roman (ich war gräßlich hungrig nach einem Buch, das für mich in Betracht kam) und Rosen geschickt, und trotzdem ich ihn hatte bitten lassen, nicht zu kommen (denn für Kranke ist es hier ausgezeichnet, für Besucher und in dieser Hinsicht auch für die Kranken abscheulich) scheint er nach einer Karte heute doch noch kommen zu wollen, abend fährt er nach Venedig. Ich fahre jetzt mit Dora nach Kierling.

    Vielen Dank auch für alle mühseligen literarischen Geschäfte, die Du für mich so prachtvoll durchgeführt hast.

    Alles Gute Dir und allem, was zu Deinem Leben gehört

F        


Meine Adresse, die vielleicht von Dora den Eltern undeutlich angegeben wurde:

Sanatorium Dr. Hoffmann

Kierling b. Klosterneuburg

Nieder-Österreich


[Beischrift:] Das Geld schicke bitte an die Adresse d. Sanatoriums. Herzlich D.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


eben bekomme ich: In der Laryngologischen Klinik in Wien. Dort hat Kafka diesen - erst von Kierling aus abgeschickten - Brief an Brod geschrieben.


mein Nachbar: Siehe Rotmut Hackermüller, op. cit., S.114, 120.


Ärztin . . . Prof. Tandler: Werfel hatte - von Brod alarmiert - seinen Freund Julius Tandler (Stadtrat für das Gesundheitswesen in Wien) sowie dessen Lebensgefährtin, die Ärztin Dr. Bien, darum gebeten, sich um Kafka zu kümmern und ihm - der in einem Mehrbettzimmer untergebracht war - bessere Bedingungen zu verschaffen (siehe Hackermüller, op. cit., S.118f. und Peter Stephan Jungk, Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt: S. Fischer 1987, S. 152). Über die Reaktion von Professor Hajek berichtet Brod: "Da schreibt mir ein gewisser Werfel, ich soll etwas für einen gewissen Kafka tun. Wer Kafka ist, das weiß ich. Das ist der Patient auf Numero 12. Aber wer ist Werfel?" (FK 178).


den Roman: Franz Werfel, Verdi. Roman der Oper, Berlin etc.: Paul Zsolnay 1924. Werfels Widmung lautet: "Franz Kafka, dem innig verehrten Dichter und Freund mit tausend Wünschen zu baldiger Genesung - Werfel".


kommen zu wollen: Werfel schreibt am 28. April an Brod aus Venedig: "Kafka hat dringend gewünscht, dass ich nicht zu ihm komme, so bin ich einmal schon von der Spitaltür zurückgekehrt." (PK 149).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at