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[Berlin-Steglitz. Ankunftstempel: Praha-Hrad, 14.1.24]

[von Dora Diamant adressiert an:] Martin Salvat Prag-Hrad poste-restante Tschechoslowakei


Lieber Max, zuerst schrieb ich nicht, weil ich krank war (hohes Fieber, Schüttelfrost und als Nachkrankheit ein einziger ärztlicher Besuch für 160 K, D. hat es dann später auf die Hälfte hinuntergehandelt jedenfalls habe ich seitdem zehnfache Angst vor Krankwerden, ein Platz zweiter Klasse im jüdischen Krankenhaus kostet 64 Kronen pro Tag womit aber nur das Bett und die Kost bezahlt ist, also wohl weder Bedienung noch Arzt), dann schrieb ich nicht weil ich glaubte dass Du auf der Durchreise nach Königsberg Berlin passierst, übrigens sagte damals auch E., dass Du in 3 Wochen kommst, um bei ihrem Vorsprechen dabei zu sein, und als auch dann diese Meinung vorüber war (wie ist Königsberg ausgefallen? dass man gegen Bunterbart ablehnend ist, den ich nun schon endlich gern lesen möchte, muß noch nichts Schlimmes sein, bei Klarissa war es doch anfänglich auch so, freilich, Kl. hätte dem zweiten Stück den Weg machen sollen), als also auch das vorüber war und Deine Herreise so weit verschoben ist, (dass man mit E. - ich weiß nicht, wie sie sich diesmal verhält, - seufzen könnte, schrieb ich nicht wegen leichter Sinnestrübung, verursacht durch Verdauungsbeschwerde udgl. Jetzt aber hat mich Deine Karte geweckt. Natürlich werde ich bei E. in der Grenze meiner Kräfte und Geschicklichkeit alles zu machen versuchen, wenn auch die Gegnerschaft der alten offenbar ebenso launischen wie hartköpfigen Dame, der es auch an Sinn für Intriguen nicht zu fehlen scheint, immerhin etwas bedeutet. Mir kommt zuhilfe und schadet mir allerdings auch etwas, dass ich mich eigentlich freue E. und ihre Sache auf dem Gebiet der Schauspielerei zu haben, das mir nicht so ganz unzugänglich ist, wie die Kehlkopf-Brust-Zungen-Nasen-und Stirngeheimnisse, aber mein Wort verliert dadurch an Wert, wenn es sonst irgendwelchen gehabt haben sollte. Das Haupthindernis ist aber meine Gesundheit, heute war z.B. ein telephonisches Gespräch mit E. vereinbart, ich kann aber nicht gut in das kalte Zimmer hinübergehn, denn ich habe 37.7 und liege im Bett. Es ist nichts besonderes, ich habe das öfters ohne weitere Folgen, der Wetterumschlag mag auch daran beteiligt sein, morgen ist es voraussichtlich vorüber, immerhin ist es ein schweres Hindernis der Bewegungsfreiheit und außerdem schwebt die Ziffer des ärztlichen Honorars in feurigen Buchstaben über meinem Bett. Vielleicht werde ich aber doch morgen vormittag in die Stadt zur Hochschule fahren und mich bei E. aufhalten können, sie immerfort herausschleppen bei diesem Wetter, - sie scheint auch ein wenig verkühlt zu sein - geht auch nicht gut. Ferner habe ich den Plan, E. vielleicht mit der Recitatorin Midia Pinez, von der ich Dir einmal erzählte, zusammenzubringen. Sie kommt für ein paar Tage nach Berlin, wird im Graphischen Kabinett Neumann einen Vortrag haben (sie spricht auswendig die Lebensgeschichte des Einsiedlers aus den Brüdern Karamasow) und mich wahrscheinlich besuchen. Vielleicht wird das auf E. eine gute exemplifikatorische Wirkung haben, die Pinez ist auch Sprachlehrerin, ein junges Mädchen. Und vorsprechen werde ich mir natürlich von E. sehr gerne lassen, habe sie auch schon längst aus aufrichtigen Herzen darum gebeten (schon nur um Verse von Goethe nach langer Zeit wieder zu hören), nur die äußern Umstände haben es bisher verhindert, zu denen auch gehört, dass wir aus unserer wunderschönen Wohnung am 1. Feber, als arme zahlungsunfähige Ausländer vertrieben werden. Du hast recht, an das "warme satte Böhmen" zu erinnern, aber es geht doch nicht gut, ein wenig ist man doch festgerannt. Schelesen ist ausgeschlossen, Schelesen ist Prag, außerdem hatte ich Wärme und Sattheit 40 Jahre und das Ergebnis ist nicht für weitere Versuche verlockend. Schelesen. wäre auch mir und Wahrscheinlich auch uns zu klein, auch habe ich mich an das "Lernen" nicht etwa gewöhnt, abgesehen davon dass es gar kein Lernen ist, sondern nur eine formale Freude ohne Untergrund, aber einen Mann, der etwas von den Dingen versteht, in der Nähe zu haben, würde mir eine gewisse Aufmunterung bedeuten, es würde sich mir wahrscheinlich mehr um den Mann als um die Dinge handeln. Jedenfalls wäre das in Schelesen nicht möglich, aber vielleicht wirklich - das fiel mir bei Deiner Bemerkung ein - in irgendeiner böhmischen oder mährischen Landstadt, ich werde darüber nachdenken. Wäre das Wesen nur nicht so hinfällig, man könnte ja die Erscheinung fast aufzeichnen: links stützt ihm etwa D.; rechts etwa jener Mann; den Nacken könnte ihm z.B. irgendein "Gekritzel" steifen; wenn jetzt nur noch der Boden unter ihm gefestigt wäre, der Abgrund vor ihm zugeschüttet, die Geier um seinen Kopf verjagt, der Sturm über ihm besänftigt, wenn das alles geschehen würde, nun, dann ginge es ja ein wenig. Ich dachte auch schon an Wien, aber zumindest 1000 K für die Reise ausgeben, (ich sauge sowieso meine ganz entzückend sich verhaltenden Eltern aus, neuerdings auch die Schwestern) überdies Prag passieren und außerdem ins Unsichere fahren ist zu riskant. So ist es vielleicht doch ganz vernünftig noch ein Weilchen hierzubleiben, umsomehr als die schweren Nachteile Berlins immerhin eine erfreuliche und erzieherische Wirkung haben. Vielleicht fahren wir dann einmal gemeinsam mit E. von hier weg. - Alles Gute, besonders zum Roman, zu dem Du, wie ich höre, endlich zurückkehren willst.

Dein F.         
s


Dank für das Liebesgabenpaket. Wir haben uns ein wenig geschämt, es zu behalten, der Inhalt war auch nicht sehr verlockend, wenn auch allen Lobes wert, D. hat einen großen Kuchen backen lassen und ihn in das jüdische Waisenhaus getragen, wo sie voriges Jahr Näherin war. Für die Kinder, die dort ein bedrücktes freudloses Leben führen, soll es ein großes Ereignis gewesen sein. Ich habe, um Dich nicht mehr damit zu belästigen einige Adressen meiner Schwester Elli geschickt, sie sollen alle beschickt werden.

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Letzthin war Kaznelson mit Frau bei mir. Frau Lise sagte, ihre Mutter hätte Dich Weihnachten in Bodenbach gesehn; ob Du hier warst? Nein sagte ich. Sofort, schlagfertig, wie von Dir souffliert, sagte Kaznelson: "Wahrscheinlich ist er nach Zwickau gefahren." Er kam mir in diesem Augenblick geradezu verdächtig vor.

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Dora kennt Manfred Georg aus Breslau (er ist jetzt in Berlin) gut und wäre neugierig, ein paar Urteilsworte von Dir über ihn zu hören. Du kennst ihn doch, wenn ich nicht irre, und wenn ich weiters nicht irre, ist der Aufsatz über Dich in dem Sammelbuch von ihm.

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Sehr schön, sehr aufmunternd, kraftgebend und mehrmals zu lesen ist das, was Du über Werfel schreibst. Aber warum heroisch? Eher genießerisch, nein doch heroisch, heroisches Genießen. Wäre nur nicht der Wurm in allen Äpfeln der eigentliche Genießer.

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Schön, schön das Teater Poiret. Beschränken wir uns einmal nur auf diese Aufsätze, was für ein Schriftsteller bist Du doch! Wie oft habe ich schon den Aufsatz über Mussgorski gelesen (und kann den Namen noch immer nicht schreiben), etwa als ein Kind, das sich am Pfosten der Saaltür festhält und in ein großes fremdes Fest hineinschaut.

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Kennst Du die "Feuerprobe" von Weiß, ich habe sie nun schon wochenlang, ich habe sie 1½mal gelesen, sie ist prachtvoll und noch schwieriger als alles andere, trotzdem sie sehr persönlich sein will und in Drehungen und Windungen freilich auch wieder nicht sein will. Ich habe ihm noch gar nicht gedankt solche Lasten habe ich einige auf dem Gewissen. Um sie ein wenig von mir abzuwälzen: hast Du schon über "Nahar" geschrieben?

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Grüß bitte vielmals Felix und Oskar von mir (von Kayser habe ich nichts weiter gehört und werde wohl auch nichts mehr hören).


Weißt Du etwas von Klopstock? Ist im Abendblatt etwas von ihm erschienen?


[Beischrift:] Ich möchte auch mal an Max schreiben. Vielleicht, schreibt er mir da auch einmal ein paar Worte, die mir vielleicht viel Freude machen würden. Aber ich bin ja zu dumm und jetzt auch noch müde dazu, da will dies mir noch so ganz fremde Deutsch garnicht gehorchen. Doch herzlich, und vielmals grüßen will ich ihn doch, und um Rat bitten, wie sich das durchführen ließe, irgendwo in einer kleinen Stadt in Böhmen zu leben. Franz hat Brünn oder Leitmerizt erwähnt, dort würde er gern leben wollen. Aber kann man da hin? Was muß man da tun um hinkommen zu können? An wen sich wenden? Ist das sehr schlimm, dass ich so viel oder überhaupt frage? Ich weiß ja nicht, vielleicht sollte ich es lieber nicht tun. Aber an Max, den Freund von Franz?

    Müde, daher Unsinn. Lebe wohl (ich sage Du!?) sei herzlich gegrüßt

Dora        



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


nach Königsberg: Zur Uraufführung von Brods Prozeß Bunterbart (siehe 1923 Anm.31), die am 10. Januar 1924 im Neuen Schauspielhaus stattfand.


Bunterbart: Siehe Anm.1.


bei Klarissa: Siehe Brods Brief vom 27. Juni 1922.


zur Hochschule: Die "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums". Einige Tage später schreibt Kafka an Felix Weltschi "Zweimal in der Woche und nur bei gutem Wetter gehe ich ein wenig in die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" (Br 466). Brod berichtet: "Er hört in der Präparandie Professor [Harry] Torczyner und Professor [Julius] Guttmanns Vorträge über den Talmud. Er liest leichtere hebräische Texte" (FK 176).


Midia Pinez: Diese Rezitatorin war mit Irene Bugsch, die Kafka von Matliary her kannte, befreundet; sie haben ihn in Berlin gemeinsam besucht.


eine formale Freude: Siehe Anm.4 oben.


"Gekritzel": So bezeichnet Kafka häufig sein eigenes Werk.


zum Roman: "Rëubeni".


Liebesgabenpaket: Kafka hatte Ende Dezember 1923 an seine Schwester Elli Hermann geschrieben: "wenn ich Dich . .. richtig verstanden habe, bist Du einem alten oder neuen Jüdischen Frauenverein beigetreten. Dieser oder ein anderer Jüdischer Frauenverein versendet eben Liebesgabenkistchen an Juden in Deutschland, an Bedürftige, vor allem glaube ich an geistige Arbeiter, die ja schon von Natur, wie erst durch die Zeitverhältnisse!, bedürftig sind." In diesem Brief nennt er dann eine Reihe von Namen und Adressen von notleidenden Juden in Deutschland.


Kaznelson mit Frau: Siegmund Kaznelson (siehe 1917 Anm. 54) war Ende 1920 mit seiner Frau Lise (geh. Weltsch) nach Berlin gegangen, um die Redaktion des Juden zu übernehmen. Kurz darauf wurde er in die Leitung des "Jüdischen Verlags" berufen.


Manfred Georg: Der Erzähler und Theaterrezensent an Berliner Zeitungen Manfred Georg (später: George) (1893-1965), der 1939 die Emigrantenzeitschrift Aufbau in New York gründete. Sein Essay "Max Brod" war 1922 im Sammelband Juden in der deutschen Literatur (hrsg. G. Krojanker, Berlin: Welt-Verlag) erschienen.


über Werfel: Brods Besprechung einer Aufführung von Werfels Schweiger mit dem Schauspieler Ernst Deutsch in der Hauptrolle ("Gastspiel Ernst Deutsch", Prager Abendblatt, 10. Januar 1924).


Teater Poiret: Max Brod, "Theater Poiret", Prager Abendblatt, 7. Dezember 1923.


über Mussgorski: Nicht ermittelt.


die Feuerprobe: Ernst Weiß, Die Feuerprobe. Roman, Berlin: Die Schmiede 1923.


Nahar: Siehe 1923 Anm.13.


Kayser: Siehe 1922 Anm. 8.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at