Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[An Ottla und Josef David]

[Berlin-Steglitz, Mitte Dezember 1923]
 


Liebste Ottla, siehst Du ich verspäte mich auch und habe keine solche Tat hinter mir, wie den Weg zum Direktor. Es war ein starkes Stück, ich danke Dir vielmals; dass es ganz so glatt ging wie Du es beschreibst, kann ich kaum glauben. Verschweigst Du mir nichts? Nun im letzten Grunde ist es nicht phantastischer, als das wunderbare Paket, das Ihr mir geschickt habt und die Ankündigung gar eines 15 kg Paketes, vor dem ich mich fast fürchte. Jedenfalls dem Vater den Dank zu unterbreiten, wage ich gar nicht mehr. Und der Mutter kann ich auch hier innerhalb Deines Briefs danken. Aber 15 kg scheint mir auch von der Seite des Bedarfs gesehn, zu viel; was kann darin nur alles sein? Und aus Deinem Haushalt gar? Ich durchsuche in der Erinnerung Deinen Besitz. Du hast doch gar nicht soviel. Manchmal freilich Vormittag, wenn der Vater zu Dir zu Besuch kam, hattest Du im Zimmer vielerlei Besitz, aber davon taugte kaum etwas zum Wegschicken. Den größten Eindruck

machten übrigens auf D. merkwürdiger Weise die Abwisch- und Tischtücher, sie sagte, sie möchte am liebsten heulen und sie tat wirklich fast etwas derartiges. - In der Beilage schicke ich das Briefkonzept, das Pepa, bitte, zu übersetzen so gut sein möge. Aber lies und redigiere es bitte vorher, es muß sich ja decken mit allem was bei dem Direktor gesprochen wurde und auch mit dem Ton, in dem es geschah. Von Palästina scheinst Du z.B. nichts gesprochen zu haben, auch von meiner Berliner Beschäftigung nichts. Kann ich in dem Brief davon schweigen ist es mir natürlich sehr recht. Sollte der Brief an den Direktor persönlich gerichtet sein? Oder vielleicht an die Anstalt? Das letztere würde eine gewisse Nüancierung verlangen. Aber der Brief an den Direktor mag wirklich genügen. Soll ich aber außer dem officiellen Brief noch einen kleinen persönlichen Dankbrief (der deutsch sein könnte) an den Direktor schreiben? Ob das nötig wäre, würde von dem Eindruck abhängen, den Du vom Direktor hattest.

Warum geht es Dir diesen Monat gar so gut? Offenbar hast Du die Puppen mit großem Gewinn verkauft. Andererseits freilich ist Vera bei Dir und läßt Dich schreiben, woraus man schließen könnte, dass sie gespannt das Ohr auf den Bauch der Puppe gelegt hat und zuhört wie es dort spricht. Jedenfalls, wenn die Puppe nichts anderes erreicht, den Begriff, den sich Vera von Berlin macht, wird sie entscheidend beeinflussen. - Rede nicht immerfort von Geld, das Du schuldig bist. Ich habe die paar Tage von Dir (fast hätte ich, ich glaube nach einer hebräischen Redensart gesagt: von Deinem Fett) gelebt, das Papier auf dem ich schreibe ist von Dir, die Feder von Dir, u.s.w.; wenn jemand auf ausgesucht kostspielige Weise eine Berliner Reise machen will, dann soll er als mein Gast kommen. Alles Gute! Und ruiniert Euch nicht meinetwegen! Und wegen Dr. Kaiser mach Dir keine Sorgen. Er hat sein Geld.

F              


Grüß Klopstock schön! Hat er zu essen? Und seine Gesundheit?

so muß ich mich drängen, um auch zu Wort zu kommen. Kann ja auch nichts Kluges sagen. Ich wäre sehr neugierig etwas über Vieras Ansicht über Berlin zu hören. Viele herzliche Grüße. Dora

Ich freue mich schon auf den Brief


Sehr geehrter Herr Direktor! Ich erlaube mir mitzuteilen dass ich mich für einige Zeit in Steglitz bei Berlin aufhalten möchte und bitte dies kurz erklären zu dürfen: Der Zustand meiner Lunge war im vorigen Herbst und Winter nicht gut und wurde noch verschlechtert durch schmerzhafte Magen- und Darmkrämpfe, nicht ganz klaren Ursprungs, die ich im Laufe jenes Halbjahres in voller Stärke einigemal hatte. Das Lungenfieber und jene Krämpfe bewirkten es, dass ich einige Monate das Bett kaum verließ. Gegen das Frühjahr zu besserten sich diese Leiden, wurden aber abgelöst durch eine äußerste Schlaflosigkeit, ein Leiden, das ich als Vorläufer und Begleiterscheinung der Lungenkrankheit schon seit Jahren hatte, aber doch nur zeitweilig und nicht vollständig und nur aus bestimmten Anlässen, diesmal aber kam es ohne bestimmten Anlaß und dauernd, es halfen kaum Schlafmittel. Der Zustand grenzte monatelang

knapp ans Unerträgliche und verschlechterte auch noch die Lunge. Im Sommer fuhr ich mit Hilfe einer Schwester - selbst war ich weder zu Entschlüssen noch zu Unternehmungen fähig - nach Müritz an der Ostsee, der Zustand besserte sich dortim Grunde gar nicht, aber es fand sich dort die Möglichkeit, dass ich im Herbst nach Steglitz fahren könnte, wo Freunde ein wenig für mich sorgen wollten, was allerdings bei den schon damals schwierigen Berliner Verhältnissen ein unbedingte Vorbedingung für meine Reise war, denn allein hätte ich in meinem Zustand in der fremden Stadt nicht leben können.

Hoffnung gebend erschien mir ein zeitweiliges Leben in Steglitz unter anderem aus folgenden Gründen:

1.) Von einem vollständigem Wechsel der Umgebung und allem was damit zusammenhängt versprach ich mir einen günstigen Einfluß auf mein Nervenleiden. An das Lungenleiden dachte ich erst in zweiter Reihe denn sofort etwas gegen das Nervenleiden zu tun, war viel dringlicher.

2.) Es traf sich aber zufällig, dass die Wahl des Ortes - wie mir schon mein Arzt in Prag sagte, der Steglitz kennt - auch für das Lungenleiden nicht ungünstig war. Steglitz ist ein halbländlicher, gartenstadtähnlicher Vorort von Berlin, ich wohne in einer kleinen Villa mit Garten und Glasveranda, ein halbstündiger Weg zwischen Gärten führt zum Grunewald, der große botanische Garten ist 10 Minuten entfernt, andere Parkanlagen sind in der Nähe und von meiner Straße ab führt jede Straße durch Gärten.

3.) Mitbestimmend war schließlich für meinen Entschluß die Hoffnung, in Deutschland mit meiner Pension leichter das Auskommen finden zu können, als in Prag. Diese Hoffnung erfüllt sich allerdings nicht mehr. In den letzten zwei Jahren wäre dies zugetroffen, aber gerade jetzt im Herbst hat die Teuerung hier die Weltmarktpreise erreicht und vielfach überschritten, so dass ich nur äußerst knapp das Auskommen finde und auch dies nur, weil mich Freunde beraten und weil ich ärztliche Behandlung noch nicht aufsuchte:

Im ganzen kann ich berichten, dass der Aufenthalt in Steglitz bis jetzt auf meinen Gesundheitszustand günstig einwirkt. Ich wollte deshalb sehr gerne noch einige Zeit hierbleiben, immer freilich unter der Voraussetzung, dass die Teuerung mich nicht vorzeitig zur Rückkehr zwingt.

Ich bitte nun höflichst sehr geehrter Herr Direktor um die Bewilligung meines hiesigen Aufenthaltes von Seiten der Anstalt und füge das Ersuchen bei, mir die Pensionsbezüge auch weiterhin an die Adresse meiner Eltern überweisen zu lassen wie bisher. Zu dieser letzteren Bitte werde ich dadurch veranlaßt, dass jede andere überweisung mich finanziell schädigen würde und ich bei der Knappheit meiner Mittel jede Schädigung sehr schmerzlich fühlen würde. Schädigen würde mich jede andere überweisung deshalb, weil sie entweder in Mark erfolgen würde (dann hätte ich Kursverlust und Kosten) oder in Kc (dann hätte ich noch größere Kosten) während die Eltern doch immer eine Möglichkeit finden können, mir durch einen Bekannten der gerade nach Deutschland fährt, das Geld kostenlos, ev. gleich für zwei Monate zu schicken. Die überweisung an die Eltern würde all

erdings nicht hindern, dass ich immer rechtzeitig die vielleicht notwendige Lebensbestätigung, über deren Form ich mich zu belehren bitte, von hier aus direkt an die Anstalt senden würde.

Indem ich nochmals bitte dieses ganze für mich sehr wichtige Ersuchen günstig aufzunehmen

                  verbleibe ich

                  mit ergebenen Grüßen


Pepo, prosím, nezlob se k vůli te velkě práci, za to přece zase Hakoah proti Slavii prohrála. Pozdravuj tv‚ rodiče asestry. A Ottlo prosím vysvětli rodičům, že teď jen jednou nebo dvakrát týdně mohu psát, porto je už tak drahé jako u nás. Vám ale prikládám české známky, abych Vás také trochu podporoval.




Deutsche Übersetzung des tschechisch geschriebenen Schlußteils:


Pepo, bitte, ärgere Dich nicht wegen der großen Arbeit, dafür hat doch wieder Hakoah gegen Slavia verloren. Grüße Deine Eltern und Schwestern. Und Ottla bitte erkläre den Eltern, dass ich jetzt nur ein- oder zweimal wöchentlich schreiben kann, das Porto ist schon so teuer wie bei uns. Euch lege ich aber tschechische Briefmarken bei, damit ich Euch auch ein bißchen unterstütze.]




Der an Josef David gerichtete Briefteil ermöglicht es, den Zeitpunkt festzustellen, an dem dieses Schreiben frühestens verfaßt worden sein kann: Das von Kafka erwähnte Fußballspiel, das am 25. XI. stattfand, wurde am 30. XI. in der Selbstwehr referiert (Nr. 47-48, S. 8), und nur aus dieser Quelle kann er davon erfahren haben (vgl. Nr. 107, 114 und die Anmerkungen zu Nr. 77). Er hat die betreffende Nummer - das Blatt wurde ihm nach Berlin geschickt (vgl. Br 466) - frühestens am Montag, dem 3. XII, in Händen gehabt. Da andererseits die Wendung "diesen Monat" voraussetzt, dass zum Zeitpunkt, an dem die Schwester von ihrem Besuch beim Direktor berichtet, schon ein größeres Stück vom Dezember vorüber gewesen sein muß und außerdem der von David übersetzte Bericht an den Direktor von Kafka erst am zo. Dezember aus Berlin weggeschickt wurde, dürfte die Abfassungszeit des Briefs etwa Mitte Dezember sein.


einen kleinen persönlichen Dankbrief: Kafka schrieb ihn am 8. I. 1924 (der Aufenthalt in Berlin und die Auszahlung der Pension an die Eltern waren am 31. XII. 1923 genehmigt worden, zum letzteren vgl. auch Nr. 116), im Gegensatz zu den bei entsprechenden Gelegenheiten abgefaßten Schreiben des Jahres 1921 (vgl. Nr. 95 und 98) jedoch in tschechischer Sprache (veröffentlicht D 81). Josef David hatte Kafkas Entwurf, der in Nr. 116 erhalten ist, zu übersetzen (vgl. Nr. 90 und 103).


die Puppe: Kafka hatte Ottlas Tochter Verä eine Puppe gekauft und sie Ottla als Geschenk mitgegeben, als sie Ende November von ihrem Berlin-Besuch nach Prag zurückkehrte (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 112).


so muß ich mich drängen: Aus Platzmangel fügte Dora Dymant ihre an Ottla gerichteten Grüße in den freien Raum zwischen die beiden letzten Abschnitte des an die Schwester gerichteten Briefteils. Vgl. das Faksimile dieser Briefseite in Abb. 22.


Sehr geehrter Herr Direktor: Die von David hergestellte tschechische Fassung ist in D 8o f. veröffentlicht, eine davon angefertigte deutsche Rückübersetzung in K. Hermsdorf, Briefe des Versicherungsangestellten Franz Kafka in: Sinn und Form 9 (1957), S. 648 f.


Lebensbestätigung: Ein solches Dokument, allerdings aus der Zeit in Kierling, ist faksimiliert in: "Exhibition Franz Kafka 1883-1924". Catalogue, Jerusalem 1969, S. 30.


Hakoah gegen Slavia: David war Anhänger des Fußballvereins Slavia Prag, der vor allem im Mittelstand seinen Anhang hatte und damals ziemlich glücklich 4:2 gewann.


Briefmarken: David war Sammler, vgl. auch Nr. 109 und den Editionsbericht.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at