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[An Ottla Kafka: Postkarte]
Liebe Ottla, das erste in der neuen Wohnung geschrieben Wort gehört
Dir, schon deshalb weil Du ja vielleicht bald in direkte Beziehung
zu ihr kommen wirst. Sie wird Dir gefallen, glaube ich.
Was die Übersiedlung betrifft, kann ich nicht sagen, dass sie
mich sehr angestrengt hat. Um ½ 11 etwa ging ich aus der alten Wohnung
fort, fuhr in die Stadt, war in der Hochschule, wollte
dann zum Essen gehn, um nachher gleich nach Steglitz zu fahren und doch
noch ein wenig an der Übersiedlung teilzunehmen, wurde aber in der
Friedrichstraße plötzlich angerufen, es war Dr. Löwy (die Müritzer aus unserer Familie kennen ihn), ich hatte
ihn in Berlin noch nicht gesehn, er war sehr lieb und freundschaftlich,
lud mich gleich zum Mittagessen bei seinen Eltern ein, wohin er eben ging,
ich zögerte vor diesem Billionengeschenk, auch wollte ich ja nach
Steglitz, aber schließlich ging ich doch, kam in den Frieden und
die Wärme einer wohlhabenden Familie und ehe ich an der Gartentür
in Steglitz läutete, war es schon 6 Uhr und die Übersiedlung
restlos vollzogen. Ich vergaß dass kein Platz
ist und habe noch eine Bitte. Die Mutter in der Empfindlichkeit ihrer Fürsorge
macht mir gerade in dem Augenblick das Angebot einer Eiersendung, wo wirklich
keine hier zu haben sind.
Wenn Du kommst, bring bitte Dir Bettwäsche mit, aber solche die Du
hier lassen kannst. Dein hiesiges Bett ist herrlich.
Auch Fußsack wäre manchmal ganz nett
Nr. 9 ist vor paar Tagen richtig angekommen
in direkte Beziehung: Vgl. Nr. 106, 108, 109 und
110. Ottla war dann am 25. November in Berlin. (Br 466) Kafka war am 15.
November 1923 von der Miquelstraße Nr. 8 in die Grunewaldstraße
Nr. 13 umgezogen.
in der Hochschule: Kafka besuchte im November und
Dezember Veranstaltungen und Kurse in der "Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums". Näheres bei H. Binder, Kafkas Hebräischstudien,
in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 11 (1967), S. 555 f.
die Märitzer aus unserer Familie: Elli Hermann,
ihre Kinder, die Kafka im Juli und August 1923 nach Müritz begleitet
hatten und Karl Hermann, der seine Familie von dort abholte (vgl. Br 439).
dass kein Platz ist: auf der Postkarte.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at