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[An Ottla Kafka: Postkarte]

[Stempel: Berlin-Steglitz - 17.11.(?)23]
 


Liebe Ottla, das erste in der neuen Wohnung geschrieben Wort gehört Dir, schon deshalb weil Du ja vielleicht bald in direkte Beziehung zu ihr kommen wirst. Sie wird Dir gefallen, glaube ich.

Was die Übersiedlung betrifft, kann ich nicht sagen, dass sie mich sehr angestrengt hat. Um ½ 11 etwa ging ich aus der alten Wohnung fort, fuhr in die Stadt, war in der Hochschule, wollte dann zum Essen gehn, um nachher gleich nach Steglitz zu fahren und doch noch ein wenig an der Übersiedlung teilzunehmen, wurde aber in der Friedrichstraße plötzlich angerufen, es war Dr. Löwy (die Müritzer aus unserer Familie kennen ihn), ich hatte ihn in Berlin noch nicht gesehn, er war sehr lieb und freundschaftlich, lud mich gleich zum Mittagessen bei seinen Eltern ein, wohin er eben ging, ich zögerte vor diesem Billionengeschenk, auch wollte ich ja nach Steglitz, aber schließlich ging ich doch, kam in den Frieden und die Wärme einer wohlhabenden Familie und ehe ich an der Gartentür in Steglitz läutete, war es schon 6 Uhr und die Übersiedlung restlos vollzogen. Ich vergaß dass kein Platz ist und habe noch eine Bitte. Die Mutter in der Empfindlichkeit ihrer Fürsorge macht mir gerade in dem Augenblick das Angebot einer Eiersendung, wo wirklich keine hier zu haben sind.

Wenn Du kommst, bring bitte Dir Bettwäsche mit, aber solche die Du hier lassen kannst. Dein hiesiges Bett ist herrlich.

Auch Fußsack wäre manchmal ganz nett

Nr. 9 ist vor paar Tagen richtig angekommen




in direkte Beziehung: Vgl. Nr. 106, 108, 109 und 110. Ottla war dann am 25. November in Berlin. (Br 466) Kafka war am 15. November 1923 von der Miquelstraße Nr. 8 in die Grunewaldstraße Nr. 13 umgezogen.


in der Hochschule: Kafka besuchte im November und Dezember Veranstaltungen und Kurse in der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums". Näheres bei H. Binder, Kafkas Hebräischstudien, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 11 (1967), S. 555 f.


die Märitzer aus unserer Familie: Elli Hermann, ihre Kinder, die Kafka im Juli und August 1923 nach Müritz begleitet hatten und Karl Hermann, der seine Familie von dort abholte (vgl. Br 439).


dass kein Platz ist: auf der Postkarte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at