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An Milena Jesenská
Als Du nach unserem letzten Beisammensein plötzlich (aber nicht überraschend)
verschwunden bist, hörte ich von Dir zum erstenmal wieder und in einer
für mich schlimmen Art Anfangs September. Inzwischen war im Juli etwas
Großes mit mir geschehn - was es doch für große Dinge
gibt! - ich war mit Hilfe meiner ältesten Schwester an die Ostsee
nach Müritz gefahren. Weg von Prag immerhin, aus
dem geschlossenen Zimmer hinaus. Mir war recht sehr übel in der ersten
Zeit. Dann spann sich in Müritz die Berliner Möglichkeit unwahrscheinlich
an. Ich wollte ja im Oktober nach Palästina, wir sprachen ja davon,
es wäre natürlich nie dazu gekommen, es war eine Phantasie, wie
sie jemand hat, der überzeugt ist dass er sein Bett nie verlassen
wird. Wenn ich mein Bett nie verlassen werde, warum soll ich dann nicht
zumindest bis nach Palästina fahren. Aber in Müritz kam ich mit
einer Ferienkolonie eines Berliner Jüdischen Volksheims zusammen,
meistens Ostjuden. Es zog mich sehr an, es lag auf meinem Wege. Ich fing
an die Möglichkeit zu denken, nach Berlin zu übersiedeln. Diese
Möglichkeit war damals nicht viel stärker als die Palästinensische,
dann wurde sie doch stärker. Allein in Berlin zu leben war mir freilich
unmöglich, in jeder Hinsicht, und nicht nur in Berlin auch anderswo
allein zu leben. Auch dafür fand sich in Müritz eine in ihrer
Art unwahrscheinliche Hilfe. Dann kam ich Mitte August
nach Prag und war dann noch über einen Monat bei meiner jüngsten
Schwester in Schelesen. Dort hörte ich zufällig von dem verbrannten
Brief, ich war verzweifelt, ich schrieb gleich einen Brief an Dich, um
mir die Last zu erleichtern, habe ihn dann aber nicht abgeschickt, weil
ich ja von Dir nichts wußte und habe ihn schließlich vor der
Berliner Reise auch verbrannt. Von den drei andern Briefen die Du erwähnst,
weiß ich bis heute nichts. Ich war verzweifelt über irgendeine
schreckliche Schande die irgendjemandem angetan worden war, ich wußte
nicht genau, wem von den drei Beteiligten. Aber freilich um die Verzweiflung
wäre ich, wenn sie auch von anderer Art gewesen wäre, auf keinen
Fall herumgekommen, auch nicht, wenn ich den Brief in Müritz richtig
bekommen hätte.
Ende September fuhr ich dann nach Berlin, kurz vor der Abreise bekam ich
noch Deine Karte aus Italien. Was die Abreise betrifft, so führte
ich sie aus mit dem letzten Endchen von Kraft, das noch aufzufinden war
oder richtiger, schon ganz ohne Kraft, ganz begräbnishaft.
Und nun bin ich also hier; es ist nicht so schlimm bis jetzt, wie Du zu
glauben scheinst, in Berlin; ich lebe fast auf dem Land, in einer kleinen
Villa mit Garten, es scheint mir, dass ich noch niemals
eine so schöne Wohnung hatte, ich werde sie auch gewiß bald
verlieren, sie ist zu schön für mich, es ist übrigens die
zweite Wohnung schon die ich hier habe. Das Essen ist nicht wesentlich
anders als in Prag, bis jetzt, allerdings nur mein Essen. Ebenso ist es
mit dem Gesundheitszustand. Das ist alles. Weiterhin wage ich nichts zu
sagen, schon das Gesagte ist zu viel, die Luftgeister trinken es gierig
ein in ihre unersättlichen Gurgeln. Und Du selbst sagst noch weniger
in Deinem Brief. Ist der Gesamtzustand ein guter, ein erträglicher?
Ich kann es nicht enträtseln. Freilich, man kann es ja bei sich selbst
nicht; nichts anderes ist die Angst".
F
1] nach Müritz: Kafkas Erholungsaufenthalt
mit seiner Schwester Elli und deren Kindern im Juli 1923. In Müritz
entdeckte er eine Ferienkolonie des Jüdischen Volksheims, Berlin,
dessen Arbeit er schon 1916, bald nach der Gründung, durch Felice
Bauer kennengelernt und eine Zeitlang gefördert hatte.
2] unwahrscheinliche Hilfe: Bezieht sich auf Kafkas
Begegnung mit der damals etwa vierundzwanzigjährigen, aus einer gläubigen
ostjüdischen Familie stammenden Dora Diamant (1898-1952), der Gefährtin
seines letzten Lebensjahres.
3] Villa mit Garten: Kafkas Wohnung in Berlin-Steglitz,
Grunewaldstr. 13, in der er von Mitte November 1923 bis Ende Januar 1924
mit Dora Diamant lebte. (Abbildung des Hauses in: Gustav Janouch, "Franz
Kafka und seine Welt", Wien: Hans Deutsch, 1965, S. 158.)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at