Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Berlin, zweite Novemberhälfte 1923]
 


Als Du nach unserem letzten Beisammensein plötzlich (aber nicht überraschend) verschwunden bist, hörte ich von Dir zum erstenmal wieder und in einer für mich schlimmen Art Anfangs September. Inzwischen war im Juli etwas Großes mit mir geschehn - was es doch für große Dinge gibt! - ich war mit Hilfe meiner ältesten Schwester an die Ostsee nach Müritz gefahren. Weg von Prag immerhin, aus dem geschlossenen Zimmer hinaus. Mir war recht sehr übel in der ersten Zeit. Dann spann sich in Müritz die Berliner Möglichkeit unwahrscheinlich an. Ich wollte ja im Oktober nach Palästina, wir sprachen ja davon, es wäre natürlich nie dazu gekommen, es war eine Phantasie, wie sie jemand hat, der überzeugt ist dass er sein Bett nie verlassen wird. Wenn ich mein Bett nie verlassen werde, warum soll ich dann nicht zumindest bis nach Palästina fahren. Aber in Müritz kam ich mit einer Ferienkolonie eines Berliner Jüdischen Volksheims zusammen, meistens Ostjuden. Es zog mich sehr an, es lag auf meinem Wege. Ich fing an die Möglichkeit zu denken, nach Berlin zu übersiedeln. Diese Möglichkeit war damals nicht viel stärker als die Palästinensische, dann wurde sie doch stärker. Allein in Berlin zu leben war mir freilich unmöglich, in jeder Hinsicht, und nicht nur in Berlin auch anderswo allein zu leben. Auch dafür fand sich in Müritz eine in ihrer Art unwahrscheinliche Hilfe. Dann kam ich Mitte August nach Prag und war dann noch über einen Monat bei meiner jüngsten Schwester in Schelesen. Dort hörte ich zufällig von dem verbrannten Brief, ich war verzweifelt, ich schrieb gleich einen Brief an Dich, um mir die Last zu erleichtern, habe ihn dann aber nicht abgeschickt, weil ich ja von Dir nichts wußte und habe ihn schließlich vor der Berliner Reise auch verbrannt. Von den drei andern Briefen die Du erwähnst, weiß ich bis heute nichts. Ich war verzweifelt über irgendeine schreckliche Schande die irgendjemandem angetan worden war, ich wußte nicht genau, wem von den drei Beteiligten. Aber freilich um die Verzweiflung wäre ich, wenn sie auch von anderer Art gewesen wäre, auf keinen Fall herumgekommen, auch nicht, wenn ich den Brief in Müritz richtig bekommen hätte.

Ende September fuhr ich dann nach Berlin, kurz vor der Abreise bekam ich noch Deine Karte aus Italien. Was die Abreise betrifft, so führte ich sie aus mit dem letzten Endchen von Kraft, das noch aufzufinden war oder richtiger, schon ganz ohne Kraft, ganz begräbnishaft.

Und nun bin ich also hier; es ist nicht so schlimm bis jetzt, wie Du zu glauben scheinst, in Berlin; ich lebe fast auf dem Land, in einer kleinen Villa mit Garten, es scheint mir, dass ich noch niemals eine so schöne Wohnung hatte, ich werde sie auch gewiß bald verlieren, sie ist zu schön für mich, es ist übrigens die zweite Wohnung schon die ich hier habe. Das Essen ist nicht wesentlich anders als in Prag, bis jetzt, allerdings nur mein Essen. Ebenso ist es mit dem Gesundheitszustand. Das ist alles. Weiterhin wage ich nichts zu sagen, schon das Gesagte ist zu viel, die Luftgeister trinken es gierig ein in ihre unersättlichen Gurgeln. Und Du selbst sagst noch weniger in Deinem Brief. Ist der Gesamtzustand ein guter, ein erträglicher? Ich kann es nicht enträtseln. Freilich, man kann es ja bei sich selbst nicht; nichts anderes ist die Angst".

F          




1] nach Müritz: Kafkas Erholungsaufenthalt mit seiner Schwester Elli und deren Kindern im Juli 1923. In Müritz entdeckte er eine Ferienkolonie des Jüdischen Volksheims, Berlin, dessen Arbeit er schon 1916, bald nach der Gründung, durch Felice Bauer kennengelernt und eine Zeitlang gefördert hatte.


2] unwahrscheinliche Hilfe: Bezieht sich auf Kafkas Begegnung mit der damals etwa vierundzwanzigjährigen, aus einer gläubigen ostjüdischen Familie stammenden Dora Diamant (1898-1952), der Gefährtin seines letzten Lebensjahres.


3] Villa mit Garten: Kafkas Wohnung in Berlin-Steglitz, Grunewaldstr. 13, in der er von Mitte November 1923 bis Ende Januar 1924 mit Dora Diamant lebte. (Abbildung des Hauses in: Gustav Janouch, "Franz Kafka und seine Welt", Wien: Hans Deutsch, 1965, S. 158.)

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at