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[An die Eltern] E Nr. 10

[Berlin-Steglitz, 27. Dezember 1923]
 


Mittwoch)     Liebste Eltern, Dank für das Geld, Frau Lise war übrigens so freundlich mir Brief und Geld zu schicken, es ist eine große Reise zu Ihnen hinaus und die Kälte jetzt doch etwas zu großartig. Gestern war über 10° R, es gibt jetzt in Berlin die schönsten Eisblumen und ganz billig, etwas was ich allmählich über alles zu schätzen anfange. Nächstens fahre ich zu Frau Lise und lasse mir von euch erzählen, vorläufig hat sie mir telephonisch nur Věras Brief aufgesagt. Den langen Brief, den Du in dem Geldbrief erwähnst habe ich noch nicht bekommen; will man mir immer die langen Briefe rauben oder verzögert ihn nur der Weihnachtspostverkehr, wie er dies offenbar auch bei meinen letzten Karten getan hat. Das angekündigte Kistchen wird mit Dank angenommen, aber wie gesagt bis zum 10. Jänner bin ich versorgt und dann nur Butter und höchstens die berühmt gewordene Linzer Torte (was ist das für eine geheimnisvoll gute Konfiture darauf?). Äpfel und Orangen sind wohl mit Porto teuerer als hier und bei allem andern ist es ebenso. - Das Geld von der Anstalt wird diesmal wohl nicht pünktlich kommen, da meine Eingabe jetzt in den Feiertagen nicht so schnell erledigt wird; das mußt Ihr entschuldigen - Der Onkel ist wohl schon gekommen, schwer löst er sich wohl von Triesch, das kann ich mir vorstellen, ich könnte nach so vielen Jahren gar nicht mehr loskommen, darum muß ich recht oft meine Aufenthalte ändern trotz der Kosten, leider, leider Euerer Kosten

      Euer F

Herzlichste Grüße




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Staroměstská náměstí č 6/III posch. Frankierung 15 (vgl. Nr. 7, Anm.1).

Von Kafka mit 27/12 23 datiert (über der Adresse des Empfängers, auch das Datum des Poststempels ist vom 27.12.1923, d. h. vom Donnerstag, der Mittwoch war der 26.12.1923.


1] Frau Lise: Vgl. Nr. 9, Anm.7.


2] Věras Brief. Vgl. Nr. 1, Anm.2.


3] bis zum 10. Jänner bin ich versorgt: Vgl. Nr. 9.


4] meine Eingabe: Es handelt sich um Kafkas Brief an den Direktor der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt Dr. Bedřich Odstrčil vom 20. Dezember 1923 (vgl. Nr. 2, Anm. 3). Ende Oktober 1923 hatte er seine Schwester Ottla gebeten, Dr. Odstrčil aufzusuchen und ihm die Gründe dafür darzulegen, dass Kafka in Berlin bleiben müsse, ferner ihn um die Zustimmung der Anstalt zu seinem Aufenthalt in Steglitz und um die Übersendung des Geldes an die Adresse der Eltern zu bitten (O, 145-146). Auf Wunsch der Direktion der Versicherungsanstalt schrieb Kafka dann am 20. Dezember ein Gesuch, dass man ihm die Genehmigung zu seinem Kuraufenthalt in Berlin erteilen möge; sein Schwager Josef David übersetzte es ins Tschechische (den deutschen Text des Gesuches siehe O, 149-151, den tschechischen siehe L, 80-81, FKAS, 317-319; weitere biographische und andere Angaben unter Nr. 2, Anm. 3). Der Anstaltsdirektor beantwortete Kafkas Gesuch am 31. Dezember 1923 (vgl. Nr. 11, Anm. 3).


5] der Onkel: Vgl. Nr. 9, Anm. 6.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at