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[An die Eltern] E Nr. 10
Mittwoch) Liebste Eltern, Dank für das Geld,
Frau Lise war übrigens so freundlich mir Brief und
Geld zu schicken, es ist eine große Reise zu Ihnen hinaus und die
Kälte jetzt doch etwas zu großartig. Gestern war über 10°
R, es gibt jetzt in Berlin die schönsten Eisblumen und ganz billig,
etwas was ich allmählich über alles zu schätzen anfange.
Nächstens fahre ich zu Frau Lise und lasse mir von euch erzählen,
vorläufig hat sie mir telephonisch nur Věras Brief
aufgesagt. Den langen Brief, den Du in dem Geldbrief erwähnst habe
ich noch nicht bekommen; will man mir immer die langen Briefe rauben oder
verzögert ihn nur der Weihnachtspostverkehr, wie er dies offenbar
auch bei meinen letzten Karten getan hat. Das angekündigte Kistchen
wird mit Dank angenommen, aber wie gesagt bis zum 10. Jänner
bin ich versorgt und dann nur Butter und höchstens die berühmt
gewordene Linzer Torte (was ist das für eine geheimnisvoll gute Konfiture
darauf?). Äpfel und Orangen sind wohl mit Porto teuerer als hier und
bei allem andern ist es ebenso. - Das Geld von der Anstalt wird diesmal
wohl nicht pünktlich kommen, da meine Eingabe jetzt
in den Feiertagen nicht so schnell erledigt wird; das mußt Ihr entschuldigen
- Der Onkel ist wohl schon gekommen, schwer löst
er sich wohl von Triesch, das kann ich mir vorstellen, ich könnte
nach so vielen Jahren gar nicht mehr loskommen, darum muß ich recht
oft meine Aufenthalte ändern trotz der Kosten, leider, leider Euerer
Kosten
Euer
F
Herzlichste Grüße
Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich
der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Staroměstská náměstí
č 6/III posch. Frankierung 15 (vgl. Nr. 7, Anm.1).
Von Kafka mit 27/12 23 datiert (über der Adresse des Empfängers,
auch das Datum des Poststempels ist vom 27.12.1923, d. h. vom Donnerstag,
der Mittwoch war der 26.12.1923.
1] Frau Lise: Vgl. Nr. 9, Anm.7.
2] Věras Brief. Vgl. Nr. 1, Anm.2.
3] bis zum 10. Jänner bin ich versorgt: Vgl.
Nr. 9.
4] meine Eingabe: Es handelt sich um Kafkas Brief
an den Direktor der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt Dr. Bedřich
Odstrčil vom 20. Dezember 1923 (vgl. Nr. 2, Anm. 3). Ende Oktober
1923 hatte er seine Schwester Ottla gebeten, Dr. Odstrčil aufzusuchen
und ihm die Gründe dafür darzulegen, dass Kafka in Berlin
bleiben müsse, ferner ihn um die Zustimmung der Anstalt zu seinem
Aufenthalt in Steglitz und um die Übersendung des Geldes an die Adresse
der Eltern zu bitten (O, 145-146). Auf Wunsch der Direktion der Versicherungsanstalt
schrieb Kafka dann am 20. Dezember ein Gesuch, dass man ihm die Genehmigung
zu seinem Kuraufenthalt in Berlin erteilen möge; sein Schwager Josef
David übersetzte es ins Tschechische (den deutschen Text des Gesuches
siehe O, 149-151, den tschechischen siehe L, 80-81, FKAS, 317-319; weitere
biographische und andere Angaben unter Nr. 2, Anm. 3). Der Anstaltsdirektor
beantwortete Kafkas Gesuch am 31. Dezember 1923 (vgl. Nr. 11, Anm. 3).
5] der Onkel: Vgl. Nr. 9, Anm. 6.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at