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An die Eltern

[Berlin-Steglitz, 11. November 1923]
 


9) Sonntag Liebste Eltern, noch schnell einen Gruß, ich hatte heute einen langen (aber angenehmen) Besuch und es ist spät geworden. - Paket 7 und 8 sind angekommen und wohlverwahrt in der Speisekammer für die besonders feinen Sachen, d.h. zwischen den Fenstern. Bisher ist nichts verloren gegangen, das gibt auch ein wenig Hoffnung für Geldbriefe. Augenblicklich ist keine Not, ich habe mir von einem Bekannten etwas Geld ausgeborgt, aber es wäre doch gut mit dem Schicken anzufangen. (dass ich nicht vergesse: von Freitag ab ist meine Adresse: Berlin-Steglitz, Grunewaldstraße 13, bei Hr. Seiffert). Denn heute früh z.B. stand mir einen Augenblick der Verstand still (was übrigens ganz leicht und ohne weitere Folgen zu geschehen pflegt), als ich den Betrag der Kohlenrechnung für den nächsten Monat hörte. Die Kohle kostet soviel wie die Wohnung. Ich werde das zweite Zimmer zu vermieten suchen. übrigens ist diese kolossalle

Teuerung (mit zwei l kolossal zu schreiben ist aber doch noch übertrieben) zum Teil künstlich, die Kurse der Devisen werden hier amtlich niedrig gehalten (gestern B. bekam man amtlich etwa 18 Milliarden für 1 Kc, im wilden Handel etwa 25 M., aber in Prag weit über 100 Milliarden, also 5mal so viel) die Preise aber bewegen sich leider nach dem wirklichen Kurs, infolgedessen lebt man mit Kc so teuer. Wieder ein Plausch.

Herzlichste Grüße F


Die alte Karte eine Woche später weggeschickt wohl schon veraltet




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, Bleisiftzusatz an den Seiten, Adresse des Empfängers mit Tinte: Hermann Kafka, Prag, Staroměstské náměstí c6, III posch., Tschechoslowakei. Von Kafka mit der Ziffer 9 versehen; Frankierung abgelöst. Unter dem Empfängernamen der Zusatz Steglitz, Novemb., offensichtlich von der Hand der Mutter.

Undatiert; Zuordnung anhand von Kafkas Erwähnung des Wochentages Sonntag und nach dem Inhalt von Nr. 5 bestimmt.


1] 9): Aus Kafkas Numerierung ist ersichtlich, dass seine Korrespondenz an die Eltern aus jener Zeit nur zum Teil erhalten geblieben ist.


2] Geldbriefe: Vgl. Nr. 2, Anm.2.


3] von Freitag ab: D.h. vom 16.11. 1923 ab. Umgezogen ist er jedoch schon am Vortag, vgl. Nr. 3, 5 und 6.


4] Berlin-Steglitz: Danach von Kafka gestrichen bei Frau Dr Rettberg, Grüne . . .


5] das zweite Zimmer zu vermieten suchen: Diese Absicht gab Kafka auf (vgl. Nr. 12).


6] kolossalle: Hier von Kafka korrigiert.


7] weit über 100 Milliarden: Laut Prager Tagblatt von Sonnabend, den 10. November 1923, war an diesem Tag der offizielle Kurs in Prag: 1 Billion Mark für 12 Kč.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at