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An die Eltern
Liebste Eltern,
Euer Brief mit der Ankündigung der Möglichkeit Deines Besuches
liebste Mutter kommt heute gerade zurecht. Wenn nicht in der Jahreszeit,
in den deutschen Verhältnissen oder bei Euch zuhause Hindernisse für
eine solche Reise sind, bei mir, seit heute vormittag, nicht die geringsten
und der Besuch, den ich mir noch gar nicht recht vorstellen kann - bisher
hast Du mich nur in Dobřichowitz besucht - wird für
mich eine große festliche Sache sein. Das Hindernis wäre bisher
nämlich die Wohnung gewesen. Mein jetziges Zimmer ist prachtvoll und
nur infolge Euerer Abneigung gegen lange Beschreibungen seit Ihr um die
Beschreibung des Zimmers gekommen undzwar für immer, denn am
15.November werde ich übersiedeln. Auch in meinem bisherigen Zimmer
hättest Du schlafen können, es ist ein schönes Kanapee da,
aber es wäre doch unbequem gewesen, außerdem bin ich zwar mit
der Hausfrau in einem sehr guten Verhältnisse, aber Spannungen gibt
es doch immerfort,hervorgerufen dadurch dass sie mir mit ihrer berlinerischen
Energie und ihrem berlinerischen Verstand (sie ist keine Jüdin) unendlich
überlegen ist. Das führt auch dazu, dass ich ausziehe. Ich
glaube, in der ersten halben Stunde unseres ersten Beisammenseins hatte
sie heraus, dass ich 1000 K Pension (damals ein großes,
heute ein viel kleineres Vermögen) habe und danach fing sie an, die
Miete und was sonst dazu gehört zu steigern und es nimmt kein Ende.
Nun sind ja freilich die allgemeinen Steigerungen der Preise groß,
aber die Steigerung meiner Miete riesenhaft, selbst wenn ich die ganz einzigartigen
Vorteile der Wohnung in Rechnung stelle. Das Zimmer wurde z.B. Ende August
mit 4 Millionen monatlich für mich gemietet und heute kostet es etwa ½ Billion, nun ist auch das nicht einmal zu viel,
aber die Unsicherheit, in der man dadurch ist, dass monatlich gesteigert
werden kann und auch sonstiges in dieser Art, ist unangenehm. Deshalb also
ziehe ich. Die Hausfrau weiß noch nichts, ich bin erst am 15. verpflichtet
es ihr zu sagen und dann ziehe ich gleich weg. Nicht weit, zwei Gassen
weiter, in einer kleinen Villa mit hübschem Garten im ersten Stock,
zwei (zwei!) schön eingerichteten Zimmern, von denen
eines, das Wohnzimmer, so sonnig ist wie mein jetziges, während das
kleinere, das Schlafzimmer, nur Morgensonne hat. Weitere Vorteile: Centralheizung
und elektrisches Licht (hier habe ich nur nicht sehr gut brennendes Gas
und die Heizung im Winter dürfte nicht ganz leicht sein, denn es ist
ein Erkerzimmer und Türen und Fenster schließen nicht sehr gut),
dort ist es in dieser Hinsicht viel besser. In weiteres
Lob will ich mich nicht einlassen, weil man natürlich eine Wohnung
erst kennt, wenn man dort mindestens 1 Jahr gewohnt hat. Die Hauptvorteile
aber sind, dass der Preis zwar nicht niedriger ist als für mein
bisheriges Zimmer aber gesicherter gegen Steigerungen und sonstige übervorteilungen.
der größte Hauptvorteil aber ist eben - und das ist der langen
Rede Sinn - dass Du liebste Mutter nun wirklich herkommen kannst,
wenn Du Lust hast, und ein bequemes Zimmer vorfindest. (Nebenbei dachte
ich übrigens auch daran, dass, wenn der Onkel Siegfried für
einige Zeit herkommen wollte, er dort wohnen und - was recht erwünscht
wäre - zu den Kosten des Unternehmens beitragen könnte.)
Doch wiederhole ich: nur als Lustreise hätte die Reise überhaupt
Sinn, Lust für mich und Dich; als Fürsorge-Reise
ist sie gänzlich unnötig, denn ich bin wunderbar versorgt
und als Gepäcktransportreise ist sie ebenso überflüssig,
denn Max kommt am 9.November und nimmt wie er mir schon geschrieben hat,
den Handkoffer mit. (Zu den Wintersachen übrigens:
ich fürchte es wird notwendig sein, auch ein paar warme Pantoffel
beizupacken, die welche ich hier habe, reißen immerfort. Das
Fräulein kennt sie, sie hat sich oft schon mit ihnen geplagt,
ich glaube, sie sind unreparabel.)
Ich würde mir ja solche Kleinigkeiten wie die Pantoffel udgl. lieber
kaufen, als darum schreiben, aber es ist unmöglich, die Teuerung in
den letzten Wochen ist unheimlich, noch immer lebt man hier wahrscheinlich
im ganzen etwas billiger als in Prag, aber es ist schon recht angenähert,
über die Lebensmittel hinaus scheint mir aber alles fast teuerer zu
sein als bei uns. Ins Teater zu gehn ist z.B. fast unmöglich, ich
wollte in eines, allerdings eines der besten gehn, der schlechteste Sitz,
auf dem man zugegebener Weise weder sieht noch hört, sich also ungestört
mit dem Nachzählen der vielen Milliarden beschäftigen kann, die
man für ihn ausgegeben hat, kostet etwa 14 K. In einem anderen Teater,
das mich auch interessiert hätte sind die Preise kleiner, dafür
aber ist das Teater viele Tage vorher ausverkauft. Es gibt, glaubeich,
keine Zeitung mehr, die weniger als 1.50 kostet. Das reicht manchmal bis
in die Lebensmittel hinein, ich rühmte mich letzthin eines Einkaufs
von Eiern ... 50 h., heute kostet ein Ei 1.60. aber wie gesagt, im ganzen
geht es doch leidlich, man lebt ebenso gut wie in Prag und nicht teuerer.
Nun habe ich mich aber verplauscht, wie die Frauen auf dem Markt. Noch
schnell zu den Fragen: Heute ist gleichzeitig mit dem Brief das Päckchen
III angekommen und dankbar aufgenommen worden - der Kalender
hat sich heute überhaupt nicht geäußert, er ist sprachlos
wegen der neuen Wohnung, ich hoffe ihn aber mitnehmen zu können.
Von den Eiern war keines verbrochen. Dagegen könnte dem Schlaf (nach
dem Ihr auch fragt und der viel empfindlicher ist als Eier) etwas passieren,
wenn man viel von ihm spricht.
Lebt wohl und grüßt alle von mir
Euer
F.
Doppelblatt und 1 einzelnes Blatt, 22 x 14 cm, 6 Seiten mit Tinte beschrieben.
Undatiert; die Zuordnung ist nach dem Briefinhalt bestimmt. Er wurde "einige
Zeit" vor dem 5. November 1923 geschrieben, als Kafka ihn in einem
Brief an Brod erwähnt: "Der Mutter habe ich allerdings vor einiger
Zeit geschrieben, dass Du nach Berlin kommen wirst; ich werde es jetzt
widerrufen..." (BRK II, 443) In einem früheren Brief, der am
2. November 1923 in Prag eintraf, teilte er Brod als frische Neuigkeit
seinen Entschluß mit, umzuziehen; es ist also wahrscheinlich, dass
dieser zur ungefähr gleichen Zeit geschrieben wurde: Ende Oktober
oder Anfang November.
1] Dobřichowitz: (Dobřichovice), Sommerfrische
bei Prag, wo Kafka Anfang Mai ein paar Tage zur Erholung weilte; von dort
schrieb er zwei Karten an Milena (M, 317-318).
2] am 15. November werde ich übersiedeln: Vgl.
hierzu eine Passage in dem Brief an Brod vom 2. November 1923: "Ich
bin übrigens heute auch nicht im Besitze aller Geisteskräfte,
zuviel mußte ich abgeben an ein ungeheueres Ereignis: ich werde am
15. November übersiedeln. Ein sehr vorteilhafter Umzug wie mir scheint.
(Ich fürchte mich fast, diese Sache, die meine Hausfrau erst am 15
November erfahren wird, zwischen ihren über meine Schulter hinweg
mitlesenden Möbeln aufzuschreiben, aber sie halten, wenigstens einzelne,
zum Teil auch mit mir)". (BRK II, 441)
3] 1000K Pension: Vgl. Nr. 2, Anm. 3.
4] etwa ½ Billion: Einen Monat vorher, in
einem Brief an Brod vom 2. Oktober 1923, erwähnt Kafka die inflatorische
Mieterhöhung in tschechoslowakischer Währung: "Mein Zimmer
das mit 28 K monatlich gemietet war kostete im September schon über
70 K, im Oktober wird es zumindest 180 K kosten." (BRK II, 432)
5] eingerichteten: Hinter diesem Wort sonnigen gestrichen.
6] in dieser Hinsicht viel besser: In der zweiten
Novemberhälfte, als er schon in der Grunewaldstraße wohnt, schreibt
Kafka in einem Brief an Milena: ". . . ich lebe fast auf dem Land,
in einer kleinen Villa mit Garten, es scheint mir, dass ich noch niemals
eine so schöne Wohnung hatte, ich werde sie gewiß auch bald
verlieren, sie ist zu schön für mich, es ist übrigens die
zweite Wohnung schon die ich hier habe." (M, 320) Am 20. Dezember
1923 schreibt er auf Tschechisch an Direktor Odstrčil: "Ich
wohne in einer kleinen Villa mit Garten; ein halbstündiger Weg führt
durch Gärten zum Grunewald, der Botanische Garten ist 10 Minuten entfernt;
andere Anlagen sind ebenfalls in der Nähe, und von meinem Wohnsitz
führt jeder Weg durch Gärten." (L, 80; FKAS, 320)
7] als Fürsorge-Reise ist sie gänzlich unnötig:
In Kafkas Haltung zum vorgeschlagenen Besuch der Mutter in Berlin drückt
sich sein kompliziertes Verhältnis zu seiner Familie in der Zeit der
fortschreitenden Krankheit aus. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der
Brief vom 8. Oktober 1923 an Ottla, die ihn dort als erste besuchen wollte:
"Ob Du mich stören würdest, darüber müssen wir
nicht sprechen. Wenn mich alles in der Welt stören würde - fast
ist es so weit -, Du nicht . . . Das bist also Du. Über Dich hinaus
aber, das muß ich sagen fürchte ich mich sehr. Dazu ist es viel
zu früh, dazu bin ich nicht fest genug hier eingerichtet, dazu schwanken
mir die Nächte zu viel. Du verstehst es gewiß: das hat nichts
mit Lieb-haben, nichts mit Willkommensein zu tun - nicht in dem der kommt
liegt der Grund dafür, sondern in dem der empfängt. Diese ganze
Berliner Sache ist ein so zartes Ding, ist mit letzter Kraft erhascht und
hat wohl davon eine große Empfindlichkeit behalten. Du weißt,
in welchem Tone man manchmal, offenbar unter dem Einfluß des Vaters,
von meinen Angelegenheiten spricht. Es ist nichts Böses darin, sondern
eher Mitgefühl, Verständnis, Pädagogik u. dgl., es ist nichts
Böses, aber es ist Prag, wie ich es nicht nur liebe, sondern auch
fürchte. Eine derartige noch so gutmütige, noch so freundschaftliche
Beurteilung unmittelbar zu sehen und zu hören, wäre mir wie ein
Herüberlangen Prags hierher nach Berlin, würde mir leid tun und
die Nächte stören. Sag mir bitte dass Du das genau mit allen
seinen traurigen Feinheiten verstehst. Ich weiß nun nicht ob Du wirst
kommen können..." (O, 137-138) - Ottla besuchte Franz Ende November
1923 in Berlin, darüber gibt es einen Bericht in seinem Brief an Brod
vom 25. November 1923 (BRK II, 444); der Besuch der Mutter kam nicht zustande.
Sein Onkel Siegfried Löwy, Arzt aus Triesch (Třešt'), besuchte
ihn erst in der zweiten Februarhälfte 1924 (vgl. Nr. 16, Anm. 1, und
Nr. 17); er wollte ihn zu einem Kuraufenthalt im Sanatorium bewegen. Max
Brods Besuch, angekündigt für den 9. November, wie Kafka durch
Brods Geliebte Emmy Salveter erfuhr (vgl. seinen am 2. November in Prag
eingetroffenen Brief, BRK II, 441), fand nicht statt (BRK II, 443 und Anm.
zur Zuordnung oben).
8] Wintersachen: Um deren Zusendung bittet Kafka
ausführlicher in einem Brief an Ottla, den Brod auf die 4. Oktoberwoche
1923 datiert: "Da mir Max die Wintersachen bringt, kannst Du ja den
Termin der Reise, wenn sie überhaupt ohne Störung der Familie
möglich wird, ganz nach den sonstigen Verhältnissen bequem bestimmen.
Das Verzeichnis der Sachen, die ich brauchen könnte, schließe
ich gleich hier an, gib es bitte der Mutter und dem Fräulein . . .
der Vater hätte nicht den richtigen Sinn dafür..." (O,
144) Darauf folgt eine lange kommentierte Liste von Wäsche und Kleidung.
Pantoffeln sind nicht dabei, was darauf schließen läßt,
dass Nr. 3 später geschrieben wurde.
9] Das Fräulein: Marie Wernerová, Wirtschafterin
in Kafkas Faiilie, ine aus Elbeteinitz (Týnec nad Labem) stammende
tschechische Jüdin.
10] der Kalender hat sich heute überhaupt nicht geäußert:
Diese Bemerkung wird durch eine Passage aus einem Brief Kafkas an seine
mittlere Schwester Valli (Valerie) Pollak (1890-1942) beleuchtet: ".
. . sie hat, die Uhr, gewisse persönliche Beziehungen zu mir, wie
überhaupt manche Dinge im Zimmer, nur dass sie jetzt, seitdem
ich gekündigt habe (oder genauer: seitdem mir gekündigt worden
ist... ), sich zum Teil von mir abzuwenden anfangen, vor allem der Kalender,
von dessen Aussprüchen ich schon einmal den Eltern schrieb. In der
letzten Zeit ist er wie verwandelt, entweder ist er ganz verschlossen,
man braucht z. B. dringend seinen Rat, geht zu ihm, er aber sagt nichts
weiter als: Reformationsfest, was ja wahrscheinlich einen tieferen Sinn
hat, aber wer kann ihn auffinden; oder aber er ist bösartig-ironisch,
letzthin z. B. las ich etwas und hatte dazu einen Einfall, der mir sehr
gut oder vielmehr bedeutungsvoll vorkam, so sehr, dass ich den Kalender
darüber fragen wollte (nur bei so zufälligen Gelegenheiten antwortet
er im Laufe seines Tages, nicht etwa, wenn man zu bestimmter Stunde pedantisch
das Kalenderblatt abreißt), "Manchmal findet auch ein blindes
Huhn usw." sagte er; ein anderesmal war ich entsetzt über die
Kohlenrechnung, worauf er sagte: "Glück und Zufriedenheit ist des
Lebens Seligkeit", darin liegt freilich neben der Ironie eine beleidigende
Stumpfsinnigkeit, er ist ungeduldig, er kann es schon gar nicht aushalten,
dass ich wegkomme, vielleicht aber ist es auch nur, dass er mir
den Abschied nicht schwer machen will, vielleicht wird hinter dem Kalenderblatt
meines Ausziehtages ein Blatt kommen, das ich nicht mehr sehen werde und
auf dem irgend etwas stehen wird, wie: "Es ist bestimmt in Gottes Rat
usw." Nein, man darf doch nicht alles aufschreiben, was man von seinem
Kalender denkt, "er ist doch auch nur ein Mensch"." (Br, 462)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at