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An die Eltern

[Berlin-Steglitz, Anfang November 1923]
 


Liebste Eltern,

Euer Brief mit der Ankündigung der Möglichkeit Deines Besuches liebste Mutter kommt heute gerade zurecht. Wenn nicht in der Jahreszeit, in den deutschen Verhältnissen oder bei Euch zuhause Hindernisse für eine solche Reise sind, bei mir, seit heute vormittag, nicht die geringsten und der Besuch, den ich mir noch gar nicht recht vorstellen kann - bisher hast Du mich nur in Dobřichowitz besucht - wird für mich eine große festliche Sache sein. Das Hindernis wäre bisher nämlich die Wohnung gewesen. Mein jetziges Zimmer ist prachtvoll und nur infolge Euerer Abneigung gegen lange Beschreibungen seit Ihr um die Beschreibung des Zimmers gekommen undzwar für immer, denn am 15.November werde ich übersiedeln. Auch in meinem bisherigen Zimmer hättest Du schlafen können, es ist ein schönes Kanapee da, aber es wäre doch unbequem gewesen, außerdem bin ich zwar mit der Hausfrau in einem sehr guten Verhältnisse, aber Spannungen gibt es doch immerfort,hervorgerufen dadurch dass sie mir mit ihrer berlinerischen Energie und ihrem berlinerischen Verstand (sie ist keine Jüdin) unendlich überlegen ist. Das führt auch dazu, dass ich ausziehe. Ich glaube, in der ersten halben Stunde unseres ersten Beisammenseins hatte sie heraus, dass ich 1000 K Pension (damals ein großes, heute ein viel kleineres Vermögen) habe und danach fing sie an, die Miete und was sonst dazu gehört zu steigern und es nimmt kein Ende. Nun sind ja freilich die allgemeinen Steigerungen der Preise groß, aber die Steigerung meiner Miete riesenhaft, selbst wenn ich die ganz einzigartigen Vorteile der Wohnung in Rechnung stelle. Das Zimmer wurde z.B. Ende August mit 4 Millionen monatlich für mich gemietet und heute kostet es etwa ½ Billion, nun ist auch das nicht einmal zu viel, aber die Unsicherheit, in der man dadurch ist, dass monatlich gesteigert werden kann und auch sonstiges in dieser Art, ist unangenehm. Deshalb also ziehe ich. Die Hausfrau weiß noch nichts, ich bin erst am 15. verpflichtet es ihr zu sagen und dann ziehe ich gleich weg. Nicht weit, zwei Gassen weiter, in einer kleinen Villa mit hübschem Garten im ersten Stock, zwei (zwei!) schön eingerichteten Zimmern, von denen eines, das Wohnzimmer, so sonnig ist wie mein jetziges, während das kleinere, das Schlafzimmer, nur Morgensonne hat. Weitere Vorteile: Centralheizung und elektrisches Licht (hier habe ich nur nicht sehr gut brennendes Gas und die Heizung im Winter dürfte nicht ganz leicht sein, denn es ist ein Erkerzimmer und Türen und Fenster schließen nicht sehr gut), dort ist es in dieser Hinsicht viel besser. In weiteres Lob will ich mich nicht einlassen, weil man natürlich eine Wohnung erst kennt, wenn man dort mindestens 1 Jahr gewohnt hat. Die Hauptvorteile aber sind, dass der Preis zwar nicht niedriger ist als für mein bisheriges Zimmer aber gesicherter gegen Steigerungen und sonstige übervorteilungen. der größte Hauptvorteil aber ist eben - und das ist der langen Rede Sinn - dass Du liebste Mutter nun wirklich herkommen kannst, wenn Du Lust hast, und ein bequemes Zimmer vorfindest. (Nebenbei dachte ich übrigens auch daran, dass, wenn der Onkel Siegfried für einige Zeit herkommen wollte, er dort wohnen und - was recht erwünscht wäre - zu den Kosten des Unternehmens beitragen könnte.)

Doch wiederhole ich: nur als Lustreise hätte die Reise überhaupt Sinn, Lust für mich und Dich; als Fürsorge-Reise ist sie gänzlich unnötig, denn ich bin wunderbar versorgt und als Gepäcktransportreise ist sie ebenso überflüssig, denn Max kommt am 9.November und nimmt wie er mir schon geschrieben hat, den Handkoffer mit. (Zu den Wintersachen übrigens: ich fürchte es wird notwendig sein, auch ein paar warme Pantoffel beizupacken, die welche ich hier habe, reißen immerfort. Das Fräulein kennt sie, sie hat sich oft schon mit ihnen geplagt, ich glaube, sie sind unreparabel.)

Ich würde mir ja solche Kleinigkeiten wie die Pantoffel udgl. lieber kaufen, als darum schreiben, aber es ist unmöglich, die Teuerung in den letzten Wochen ist unheimlich, noch immer lebt man hier wahrscheinlich im ganzen etwas billiger als in Prag, aber es ist schon recht angenähert, über die Lebensmittel hinaus scheint mir aber alles fast teuerer zu sein als bei uns. Ins Teater zu gehn ist z.B. fast unmöglich, ich wollte in eines, allerdings eines der besten gehn, der schlechteste Sitz, auf dem man zugegebener Weise weder sieht noch hört, sich also ungestört mit dem Nachzählen der vielen Milliarden beschäftigen kann, die man für ihn ausgegeben hat, kostet etwa 14 K. In einem anderen Teater, das mich auch interessiert hätte sind die Preise kleiner, dafür aber ist das Teater viele Tage vorher ausverkauft. Es gibt, glaubeich, keine Zeitung mehr, die weniger als 1.50 kostet. Das reicht manchmal bis in die Lebensmittel hinein, ich rühmte mich letzthin eines Einkaufs von Eiern ... 50 h., heute kostet ein Ei 1.60. aber wie gesagt, im ganzen geht es doch leidlich, man lebt ebenso gut wie in Prag und nicht teuerer.

Nun habe ich mich aber verplauscht, wie die Frauen auf dem Markt. Noch schnell zu den Fragen: Heute ist gleichzeitig mit dem Brief das Päckchen III angekommen und dankbar aufgenommen worden - der Kalender hat sich heute überhaupt nicht geäußert, er ist sprachlos wegen der neuen Wohnung, ich hoffe ihn aber mitnehmen zu können.

Von den Eiern war keines verbrochen. Dagegen könnte dem Schlaf (nach dem Ihr auch fragt und der viel empfindlicher ist als Eier) etwas passieren, wenn man viel von ihm spricht.

Lebt wohl und grüßt alle von mir

Euer

F.




Doppelblatt und 1 einzelnes Blatt, 22 x 14 cm, 6 Seiten mit Tinte beschrieben.

Undatiert; die Zuordnung ist nach dem Briefinhalt bestimmt. Er wurde "einige Zeit" vor dem 5. November 1923 geschrieben, als Kafka ihn in einem Brief an Brod erwähnt: "Der Mutter habe ich allerdings vor einiger Zeit geschrieben, dass Du nach Berlin kommen wirst; ich werde es jetzt widerrufen..." (BRK II, 443) In einem früheren Brief, der am 2. November 1923 in Prag eintraf, teilte er Brod als frische Neuigkeit seinen Entschluß mit, umzuziehen; es ist also wahrscheinlich, dass dieser zur ungefähr gleichen Zeit geschrieben wurde: Ende Oktober oder Anfang November.


1] Dobřichowitz: (Dobřichovice), Sommerfrische bei Prag, wo Kafka Anfang Mai ein paar Tage zur Erholung weilte; von dort schrieb er zwei Karten an Milena (M, 317-318).


2] am 15. November werde ich übersiedeln: Vgl. hierzu eine Passage in dem Brief an Brod vom 2. November 1923: "Ich bin übrigens heute auch nicht im Besitze aller Geisteskräfte, zuviel mußte ich abgeben an ein ungeheueres Ereignis: ich werde am 15. November übersiedeln. Ein sehr vorteilhafter Umzug wie mir scheint. (Ich fürchte mich fast, diese Sache, die meine Hausfrau erst am 15 November erfahren wird, zwischen ihren über meine Schulter hinweg mitlesenden Möbeln aufzuschreiben, aber sie halten, wenigstens einzelne, zum Teil auch mit mir)". (BRK II, 441)


3] 1000K Pension: Vgl. Nr. 2, Anm. 3.


4] etwa ½ Billion: Einen Monat vorher, in einem Brief an Brod vom 2. Oktober 1923, erwähnt Kafka die inflatorische Mieterhöhung in tschechoslowakischer Währung: "Mein Zimmer das mit 28 K monatlich gemietet war kostete im September schon über 70 K, im Oktober wird es zumindest 180 K kosten." (BRK II, 432)


5] eingerichteten: Hinter diesem Wort sonnigen gestrichen.


6] in dieser Hinsicht viel besser: In der zweiten Novemberhälfte, als er schon in der Grunewaldstraße wohnt, schreibt Kafka in einem Brief an Milena: ". . . ich lebe fast auf dem Land, in einer kleinen Villa mit Garten, es scheint mir, dass ich noch niemals eine so schöne Wohnung hatte, ich werde sie gewiß auch bald verlieren, sie ist zu schön für mich, es ist übrigens die zweite Wohnung schon die ich hier habe." (M, 320) Am 20. Dezember 1923 schreibt er auf Tschechisch an Direktor Odstrčil: "Ich wohne in einer kleinen Villa mit Garten; ein halbstündiger Weg führt durch Gärten zum Grunewald, der Botanische Garten ist 10 Minuten entfernt; andere Anlagen sind ebenfalls in der Nähe, und von meinem Wohnsitz führt jeder Weg durch Gärten." (L, 80; FKAS, 320)


7] als Fürsorge-Reise ist sie gänzlich unnötig: In Kafkas Haltung zum vorgeschlagenen Besuch der Mutter in Berlin drückt sich sein kompliziertes Verhältnis zu seiner Familie in der Zeit der fortschreitenden Krankheit aus. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der Brief vom 8. Oktober 1923 an Ottla, die ihn dort als erste besuchen wollte: "Ob Du mich stören würdest, darüber müssen wir nicht sprechen. Wenn mich alles in der Welt stören würde - fast ist es so weit -, Du nicht . . . Das bist also Du. Über Dich hinaus aber, das muß ich sagen fürchte ich mich sehr. Dazu ist es viel zu früh, dazu bin ich nicht fest genug hier eingerichtet, dazu schwanken mir die Nächte zu viel. Du verstehst es gewiß: das hat nichts mit Lieb-haben, nichts mit Willkommensein zu tun - nicht in dem der kommt liegt der Grund dafür, sondern in dem der empfängt. Diese ganze Berliner Sache ist ein so zartes Ding, ist mit letzter Kraft erhascht und hat wohl davon eine große Empfindlichkeit behalten. Du weißt, in welchem Tone man manchmal, offenbar unter dem Einfluß des Vaters, von meinen Angelegenheiten spricht. Es ist nichts Böses darin, sondern eher Mitgefühl, Verständnis, Pädagogik u. dgl., es ist nichts Böses, aber es ist Prag, wie ich es nicht nur liebe, sondern auch fürchte. Eine derartige noch so gutmütige, noch so freundschaftliche Beurteilung unmittelbar zu sehen und zu hören, wäre mir wie ein Herüberlangen Prags hierher nach Berlin, würde mir leid tun und die Nächte stören. Sag mir bitte dass Du das genau mit allen seinen traurigen Feinheiten verstehst. Ich weiß nun nicht ob Du wirst kommen können..." (O, 137-138) - Ottla besuchte Franz Ende November 1923 in Berlin, darüber gibt es einen Bericht in seinem Brief an Brod vom 25. November 1923 (BRK II, 444); der Besuch der Mutter kam nicht zustande. Sein Onkel Siegfried Löwy, Arzt aus Triesch (Třešt'), besuchte ihn erst in der zweiten Februarhälfte 1924 (vgl. Nr. 16, Anm. 1, und Nr. 17); er wollte ihn zu einem Kuraufenthalt im Sanatorium bewegen. Max Brods Besuch, angekündigt für den 9. November, wie Kafka durch Brods Geliebte Emmy Salveter erfuhr (vgl. seinen am 2. November in Prag eingetroffenen Brief, BRK II, 441), fand nicht statt (BRK II, 443 und Anm. zur Zuordnung oben).


8] Wintersachen: Um deren Zusendung bittet Kafka ausführlicher in einem Brief an Ottla, den Brod auf die 4. Oktoberwoche 1923 datiert: "Da mir Max die Wintersachen bringt, kannst Du ja den Termin der Reise, wenn sie überhaupt ohne Störung der Familie möglich wird, ganz nach den sonstigen Verhältnissen bequem bestimmen. Das Verzeichnis der Sachen, die ich brauchen könnte, schließe ich gleich hier an, gib es bitte der Mutter und dem Fräulein . . . der Vater hätte nicht den richtigen Sinn dafür..." (O, 144) Darauf folgt eine lange kommentierte Liste von Wäsche und Kleidung. Pantoffeln sind nicht dabei, was darauf schließen läßt, dass Nr. 3 später geschrieben wurde.


9] Das Fräulein: Marie Wernerová, Wirtschafterin in Kafkas Faiilie, ine aus Elbeteinitz (Týnec nad Labem) stammende tschechische Jüdin.


10] der Kalender hat sich heute überhaupt nicht geäußert: Diese Bemerkung wird durch eine Passage aus einem Brief Kafkas an seine mittlere Schwester Valli (Valerie) Pollak (1890-1942) beleuchtet: ". . . sie hat, die Uhr, gewisse persönliche Beziehungen zu mir, wie überhaupt manche Dinge im Zimmer, nur dass sie jetzt, seitdem ich gekündigt habe (oder genauer: seitdem mir gekündigt worden ist... ), sich zum Teil von mir abzuwenden anfangen, vor allem der Kalender, von dessen Aussprüchen ich schon einmal den Eltern schrieb. In der letzten Zeit ist er wie verwandelt, entweder ist er ganz verschlossen, man braucht z. B. dringend seinen Rat, geht zu ihm, er aber sagt nichts weiter als: Reformationsfest, was ja wahrscheinlich einen tieferen Sinn hat, aber wer kann ihn auffinden; oder aber er ist bösartig-ironisch, letzthin z. B. las ich etwas und hatte dazu einen Einfall, der mir sehr gut oder vielmehr bedeutungsvoll vorkam, so sehr, dass ich den Kalender darüber fragen wollte (nur bei so zufälligen Gelegenheiten antwortet er im Laufe seines Tages, nicht etwa, wenn man zu bestimmter Stunde pedantisch das Kalenderblatt abreißt), "Manchmal findet auch ein blindes Huhn usw." sagte er; ein anderesmal war ich entsetzt über die Kohlenrechnung, worauf er sagte: "Glück und Zufriedenheit ist des Lebens Seligkeit", darin liegt freilich neben der Ironie eine beleidigende Stumpfsinnigkeit, er ist ungeduldig, er kann es schon gar nicht aushalten, dass ich wegkomme, vielleicht aber ist es auch nur, dass er mir den Abschied nicht schwer machen will, vielleicht wird hinter dem Kalenderblatt meines Ausziehtages ein Blatt kommen, das ich nicht mehr sehen werde und auf dem irgend etwas stehen wird, wie: "Es ist bestimmt in Gottes Rat usw." Nein, man darf doch nicht alles aufschreiben, was man von seinem Kalender denkt, "er ist doch auch nur ein Mensch"." (Br, 462)

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at