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An Valli PoIlak

[Berlin-Steglitz, November 1923]
 

Liebe Valli,

der Tisch steht beim Ofen, eben bin ich vom Ofenplatz weggerückt, weil dort zu warm wird, selbst dem ewig kalten Rücken, meine Petroleumlampe brennt wunderbar, ein Meisterwerk sowohl der Lampenmacherei als auch des Einkaufs (sie ist aus einzelnen Stücken zusammengeborgt und zusammengekauft, freilich nicht von mir, wie brächte ich das zustande! eine Lampe mit einem Brenner, groß wie eine Teetasse, und einer Konstruktion, die es ermöglicht, sie anzuzünden, ohne Zylinder und Glocke abzunehmen; eigentlich hat sie nur den Fehler, dass sie ohne Petroleum nicht brennt, aber das tun wir andern ja auch nicht) und so sitze ich und nehme deinen jetzt so alten, lieben Brief vor. Die Uhr tickt, sogar an das Ticken der Uhr habe ich mich gewöhnt, höre es übrigens nur selten, gewöhnlich dann, wenn ich besonders billigenswerte Dinge tue, sie hat, die Uhr, gewisse persönliche Beziehungen zu mir, wie überhaupt manche Dinge im Zimmer, nur dass sie jetzt, seitdem ich gekündigt habe (oder genauer: seitdem mir gekündigt worden ist, was in jeder Beziehung gut ist und im übrigen eine komplizierte seitenlang beschreibbare Angelegenheit ist), sich zum Teil von mir abzuwenden anfangen, vor allem der Kalender, von dessen Aussprüchen ich schon einmal den Eltern schrieb. In der letzten Zeit ist er wie verwandelt, entweder ist er ganz verschlossen, man braucht z. B. dringend seinen Rat, geht zu ihm, er aber sagt nichts weiter als: Reformationsfest, was ja wahrscheinlich einen tieferen Sinn hat, aber wer kann ihn auffinden; oder aber er ist bösartig ironisch, letzthin z. B las ich etwas und hatte dazu einen Einfall, der mir sehr gut oder vielmehr bedeutungsvoll vorkam, so sehr, dass ich den Kalender darüber fragen wollte (nur bei so zufälligen Gelegenheiten antwortet er im Laufe seines Tags, nicht etwa, wenn man zu bestimmter Stunde pedantisch das Kalenderblatt abreißt), "Manchmal findet auch ein blindes Huhn usw." sagte er; ein anderesmal war ich entsetzt über die Kohlenrechnung, worauf er sagte: "Glück und Zufriedenheit ist des Lebens Seligkeit", darin liegt freilich neben der Ironie eine beleidigende Stumpfsinnigkeit, er ist ungeduldig, er kann es schon gar nicht aushalten, dass ich wegkomme, vielleicht aber ist es auch nur, dass er mir den Abschied nicht schwer machen will, vielleicht wird hinter dem Kalenderblatt meines Ausziehtages ein Blatt kommen, das ich nicht mehr sehen werde und auf dem irgend etwas stehn wird, wie: "Es ist bestimmt in Gottes Rat usw.". Nein, man darf doch nicht alles aufschreiben, was man von seinem Kalender denkt, "er ist doch auch nur ein Mensch".

Wenn ich dir in dieser Weise von allem schreiben wollte, womit ich in Berührung komme, käme ich natürlich zu keinem Ende und es bekäme den Anschein, als wenn ich ein sehr bewegtes Gesellschaftsleben führen würde, in Wirklichkeit ist es aber sehr still um mich, übrigens niemals zu still. Von den Aufregungen Berlins, den schlimmen und den guten, erfahre ich wenig, von den ersteren natürlich mehr. Weiß übrigens Peppa, was man in Berlin sagt, wenn man gefragt wird: "Wie gehts?" Ach, er weiß es ja gewiß, ihr wißt alle über Berlin mehr als ich. Nun auf die Gefahr hin, etwas ganz Veraltetes zu sagen, sachlich ist es ja noch immer aktuell, man sagt: "Mies mal Index." Und dieses: Einer erzählt begeistert vom Leipziger Turnfest: " - der ungeheure Anblick, wie die 750.000 Turner einmarschiert sind!" Der andere sagt, langsam rechnend: "Na, was ist denn das, dreieinhalb Friedensturner."

Wie geht es (das ist schon gar kein Witz mehr, aber hoffentlich auch nichts Trauriges) in der jüdischen Schule? Hast du den Aufsatz des jungen Lehrers in der "Selbstwehr" gelesen? Sehr gut gemeint und eifrig. Wieder habe ich gehört, dass es Arnstein sehr gut geht und Frl. Mauthner soll das ganze palästinensische Turnen reformiert haben. Dem alten Ascherman mußt du seinen Geschäftssinn nicht übelnehmen, es ist immerhin schon etwas Ungeheures, seine Familie auf den Rücken zu nehmen und durch das Meer nach Palästina zu tragen. Daß so viele es tun von seiner Art, ist kein kleineres Meerwunder als jenes im Schilfmeer.

Marianne und Lotte danke ich vielmals für ihre Briefe. Merkwürdig wie ihre Schriften, nebeneinandergestellt, vielleicht nicht ihre Wesensunterschiede, aber fast ihre Körperunterschiede darstellen, wenigstens scheint es mir so in diesen letzten Briefen. Marianne fragt, was mich aus ihrem Leben besonders interessiert, nun: was sie liest, ob sie noch tanzt (hier, in dem jüdischen Volksheim lernen alle Mädchen rhythmisches Tanzen, allerdings unentgeltlich) und ob sie noch die Brille trägt. Lotte soll ich von Anni G. grüßen. Ein liebes, schönes, kluges Kind (Lotte nämlich, aber auch Anni), sie lernt fleißig Hebräisch, kann schon fast lesen und ein neues Liedchen singen. Macht auch Lotte Fortschritte?

Nun ist aber schon allerhöchste Zeit, schlafen zu gehn. Nun war ich fast einen ganzen Abend bei euch und aus der Stockhausgasse in die Miquelstraße ist es so weit. Lebt wohl. . . . . . . .


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at