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An Carl Seelig

[Schelesen, September 1923]
 

Sehr geehrter Herr,

ich bin für ein paar Tage auf dem Lande, Ihr Brief wurde mir nachgeschickt. Meinen herzlichen Dank für die freundliche Einladung. Leider kann ich mich jetzt an der Bücherfolge nicht beteiligen. Was aus früherer Zeit an Geschriebenem vorliegt, ist gänzlich unbrauchbar, ich kann es niemandem zeigen; in letzter Zeit aber bin ich weit abseits von Schreiben getrieben worden. Lassen Sie mir aber die Möglichkeit, später einmal vielleicht mich zu melden.

An Ihren Brief vor etwa zwei Jahren erinnere ich mich wohl, verzeihen Sie die alte Schuld. Es ging mir damals so schlecht, dass ich nicht einmal antworten konnte.

Ebensowenig wie der ersten kann ich Ihrer zweiten Aufforderung entsprechen, beide hängen ja auch zusammen und nicht nur äußerlich. Um ihnen zu entsprechen, ist zumindest eine gewisse Verantwortungskraft nötig, die mir augenblicklich fehlt. Auch könnte ich gewiß nur Namen nennen, die Ihnen gut bekannt sind.

Eine geringe Ausbeute, die Ihr liebenswürdiger Brief gemacht hat, nichtwahr? Es liegt nicht an ihm, dass es so ist.

Mit herzlichem Gruße

Ihr ergebener

Franz Kafka




Carl Seelig: der bekannte Züricher Schriftsteller, Lyriker und Kritiker, der sich besonders für junge Begabungen wie Horst Schade, für große Autoren wie Ramuz einsetzte, Herausgeber des Gesamtwerkes von Georg Heym und von neuen Ausgaben der Werke von Novalis, Swift, Wilde und Walser, edierte im Verlag E. P. Tal (Wien), bei dem er Lektor war, eine Sammlung "Die zwölf Bücher". Jeden Monat sollte ein Buch in 1000 numerierten Exemplaren publiziert werden; es erschienen unter anderem Werke von Maeterlinck, Hesse, Rolland, Barbusse, Stefan Zweig, Toller. Seelig wandte sich an Kafka mit der Bitte, ein unveröffentlichtes Werk in dieser Sammlung erscheinen zu lassen, wofür der in jener Inflationszeit hohe Betrag von tausend Franken geboten wurde. Ferner sollte Kafka mitteilen, welche junge begabte Autoren für diese Sammlung in Frage kämen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at