Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Carl Seelig
Sehr geehrter Herr,
ich bin für ein paar Tage auf dem Lande, Ihr Brief wurde mir nachgeschickt.
Meinen herzlichen Dank für die freundliche Einladung. Leider kann
ich mich jetzt an der Bücherfolge nicht beteiligen. Was aus früherer
Zeit an Geschriebenem vorliegt, ist gänzlich unbrauchbar, ich kann
es niemandem zeigen; in letzter Zeit aber bin ich weit abseits von Schreiben
getrieben worden. Lassen Sie mir aber die Möglichkeit, später
einmal vielleicht mich zu melden.
An Ihren Brief vor etwa zwei Jahren erinnere ich mich wohl, verzeihen Sie
die alte Schuld. Es ging mir damals so schlecht, dass ich nicht einmal
antworten konnte.
Ebensowenig wie der ersten kann ich Ihrer zweiten Aufforderung entsprechen,
beide hängen ja auch zusammen und nicht nur äußerlich.
Um ihnen zu entsprechen, ist zumindest eine gewisse Verantwortungskraft
nötig, die mir augenblicklich fehlt. Auch könnte ich gewiß
nur Namen nennen, die Ihnen gut bekannt sind.
Eine geringe Ausbeute, die Ihr liebenswürdiger Brief gemacht hat,
nichtwahr? Es liegt nicht an ihm, dass es so ist.
Mit herzlichem Gruße
Ihr ergebener
Franz Kafka
Carl Seelig: der bekannte Züricher Schriftsteller,
Lyriker und Kritiker, der sich besonders für junge Begabungen wie
Horst Schade, für große Autoren wie Ramuz einsetzte, Herausgeber
des Gesamtwerkes von Georg Heym und von neuen Ausgaben der Werke von Novalis,
Swift, Wilde und Walser, edierte im Verlag E. P. Tal (Wien), bei dem er
Lektor war, eine Sammlung "Die zwölf Bücher". Jeden
Monat sollte ein Buch in 1000 numerierten Exemplaren publiziert werden;
es erschienen unter anderem Werke von Maeterlinck, Hesse, Rolland, Barbusse,
Stefan Zweig, Toller. Seelig wandte sich an Kafka mit der Bitte, ein unveröffentlichtes
Werk in dieser Sammlung erscheinen zu lassen, wofür der in jener Inflationszeit
hohe Betrag von tausend Franken geboten wurde. Ferner sollte Kafka mitteilen,
welche junge begabte Autoren für diese Sammlung in Frage kämen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at