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An Robert Klopstock

[Müritz, Anfang August 1923]
 

Mein lieber Robert, niemals kann ich aus eigener Erfahrung verstehn, niemals auch werde ich die Möglichkeit haben zu verstehn, dass man als ein sonst fröhlicher, im wesentlichen sorgenloser Mensch nur an der Lungenkrankheit zugrundegehn kann. Irren Sie wirklich nicht hinsichtlich Glaubers? Ist es wirklich so weit, wie er nur immer behauptet hat, ohne dass jemand es ihm glauben wollte? Und nun noch dieser regnerische Sommer, die baufällige "Tatra", die unerbittlichen Berge, das ist schlimm. Für ihn und Sie.

Hinsichtlich Ihrer Krankheit mache ich mir keine Sorgen. Sie sind nachlässig beim Essen, nachlässig hinsichtlich der Verkühlung, da kann leicht etwas geschehn, ohne dass es etwas bedeutet.

Mein Kopf und Schlaf ist schlecht, besonders in den letzten Tagen, frei war mein Kopf schon lange nicht, die Kolonie, die mir am Anfang nur Schlaf gegeben bat, nimmt mir ihn jetzt auch sehr, wird mir ihn aber vielleicht wieder einmal geben, es ist eben ein lebendiges Verhältnis.

Montag morgen fahren wir von hier fort, ich könnte freilich noch bleiben,wenn ich allein bleiben könnte. Von der Kolonie allein könnte ich in diesem Sinne nicht leben, denn dort bin ich nur Gast. Und nicht einmal ein eindeutiger Gast, was mich schmerzt, nicht eindeutig, denn mit der allgemeinen Beziehung kreuzt sich eine persönliche. Aber was es da an störenden Einzelheiten auch geben mag, und wenn es auch zur Lebenserhaltung nicht hinreicht, das wichtigste in Müritz und über Müritz hinaus ist mir die Kolonie.

In Berlin bleibe ich ein, zwei Tage, bin ich nicht zu müde, mache ich das Wagnis und fahre für einen Tag nach Karlsbad, d. h. von Berlin über Karlsbad nach Prag, was vielleicht nicht sehr teuer ist. Das Wagnis ist gedankenmäßig deshalb nicht so groß wie es in meiner Terminologie aussieht, weil ich in Gedanken mich schon daran gewöhnt hatte, nach Marienbad zu den Eltern zu fahren, die Eltern aber wegen des schlechten Wetters schon früher nach Prag fahren, so dass ich sie dort nicht mehr treffen würde. Es ist also deshalb für mich in gewissem Sinn ein kleineres Wagnis, über Karlsbad als direkt nach Prag zu fahren, so wie etwa der Kaiser von Rußland auch seine Reisepläne nicht willkürlich ändern durfte, denn nur auf den schon vorbereiteten Strecken war er vor Überfällen geschützt. Meine Lebenshaltung ist nicht minder großartig.

Und späterhin, nach Prag? Das weiß ich nicht. Hätten Sie Lust nach Berlin zu übersiedeln? Näher, ganz nahe den Juden?

K


Gibt es etwas, was man einen akuten Lungenspitzenkatarrh nennt

Grüßen Sie, wer zu grüßen ist.




Juden: Aller Wahrscheinlichkeit nach ist hier das "Jüdische Volksheim" in Berlin gemeint.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at