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An M. E.

[Prag, Januar/Februar 1923]
 

Liebe Minze,

Meinen letzten Brief werden sie wohl in Teplitz nicht mehr bekommen haben. Er handelte von einer schweren Operation meiner Mutter; die Operation ist nun vorüber und die Mutter scheint sich langsam, sehr langsam zu erholen.

Diese Dinge und andere hinderten mich, Ihnen früher zu schreiben und nun sind Sie inzwischen wirklich in Ihrem winterlichen Garten. Daß es schwer ist, Minze, wie sollte ich das nicht wissen. Es ist ein ganz verzweifeltes jüdisches Unternehmen, aber es hat, so weit ich sehe, Großartigkeit in seiner Verzweiflung. (Vielleicht ist es übrigens gar nicht so verzweifelt, wie es mir heute nach einer selbst für meine Verhältnisse ungewöhnlich schlaflosen, zerstörenden Nacht erscheint.) Man kann nicht die Vorstellung abweisen, dass ein Kind verlassen in seinem Spiel irgendeine unerhörte Sessel-Besteigung oder dergleichen unternimmt, aber der ganz vergessene Vater doch zusieht und alles viel gesicherter ist als es scheint. Dieser Vater könnte z.B, das jüdische Volk sein*. Können Sie übrigens hebräisch oder haben Sie es wenigstens jemals zu lernen begonnen? Ihr Bräutigam ist Jude? Zionist?

Sorge macht mir eigentlich in dem ganzen Unternehmen nur die körperliche Müdigkeit, von der Sie manchmal schreiben. Ist es die Spur einer Krankheit? Oder nur oder zum größten Teil jene selbstverständliche Müdigkeit, die mit dem wunderbaren, mir versagten Schlaft endet?

Wenn ich in besserer Geistesverfassung bin, schreibe ich wieder.

Leben Sie recht wohl.

Ihr Kafka


* Dies würde auch das Ihnen unverständliche, aus eigener Kraft nicht hervorzubringende, fortwährende Sich-Sträuben gegen die Gleichgültigkeit erklären helfen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at