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[Postkarte. Stempel: Berlin NWz, 17.12.23; Ankunftstempel: Praha-Hrad, 18.12.23]

[An: ] Martin Salvat Prag-Hrad poste restante Tschechoslowakei


Liebster Max, lange habe ich nicht geschrieben, es gab für mich Störungen verschiedenster Art und verschiedenstartige Müdigkeit, wie man sich eben (als pensionierter Beamter) durchkämpft in der wilden Fremde und, was noch schwieriger ist, in der wilden Welt überhaupt. Die Aufregungen, in denen ich damals mit Deinem Feuilleton meine unglückliche Hand bewährte, sind wohl schon vorüber, waren übrigens schon damals vorüber, denn den Tag nachher bekamst Du ja, wie mir E. sagte, eine gute, um Verzeihung bittende Karte, darum trug auch ich dann nicht mehr schwer daran. Die Geldsorgen verstehe ich jetzt sehr gut, nur verstehe ich jetzt nach dem Miterleben und Mißverstehn der Novemberkrise, die Du damals so viel besser deutetest als ich, nicht, warum Du Dich von der Dezemberkrise als solcher (Eifersucht, Tclephonschwierigkeiten u.s.w.) so sehr fortreißen ließest, als wäre sie im Wesen etwas anderes als die Krise im November, die durch Euer Beisammensein sich derart schön löste, dass es ein Präjudiz für alle Zeiten gab. Jedenfalls aber, wenn Du irgendeinen Auftrag hast und die Gefahr einer Dummheit meinerseits nicht zu sehr befürchtest, vergiß mich nicht. - Was bedeutet die Bemerkung über Dein Stück? Ist es schon aufgeführt worden? Ich lese (wegen der Teuerung) keine Zeitung, auch die Sonntagszeitung habe ich aufgegeben (von neuen Steuern erfährt man ja so wie so von der Hausfrau überrechtzeitig) und so weiß ich von der Welt viel weniger als in Prag. So würde ich z. B. gern etwas über "Vincenz" von Musil erfahren, wovon ich nichts weiß als den Titel, den ich lange nach der Premiere auf dem Weg zur Hochschule (meinem Weltgang) auf dem Teaterzettel las. Aber ein wesentliches Leid ist das wahrhaftig nicht. Übrigens: mit Viertel oder Blei kannst Du wegen Deines Stückes in keine Beziehung treten? es sind doch fast Freunde. - An Oskar hätte ich wegen seiner Rundschauerzählung längst schreiben sollen, aber die Sache ist noch im Gang, sozusagen.

    Grüße von Dora, die gerade entzückt ist von dem Aufsatz über Křiča.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Dein Stück: Max Brod, Prozeß Bunterbart. Schauspiel dieser Zeit in 3 Akten, München: Kurt Wolff 1924. (In diesem Schauspiel kehren Personen aus dem Lustspiel Klarissas halbes Herz wieder.)


"Vincenz": Robert Musils Posse in drei Akten Vincenz und die Freundin bedeutender Männer war am 4. Dezember 1923 in Berlin uraufgeführt worden.


Viertel: Berthold Viertel (1885-1953), der wie Franz Blei schon 1912 an den Herderblättern mitgewirkt hatte, war inzwischen zu einem einflußreichen Theatermann geworden.


Rundschauerzählung: Brod merkt hierzu an: "Bezieht sich auf eine Novelle Oskar Baums "Das Ungetüm", deren Abdruck in der Neuen Rundschau Kafka vermitteln wollte" (Br 516).


Aufsatz über Křička: Brod hatte im Prager Abendblatt (29. November 1923) ein Konzert der Gesangsvereinigung Prager Lehrer besprochen und dabei die "Kinderlieder" des tschechischen Komponisten Jaroslav Křička (1882-1969) besonders hervorgehoben.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at