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[Berlin-Steglitz. Ankunftstempel: Praha-Hrad, 27.10.23]

[An:] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante Tschechoslowakei

[Abs.:] Dr Kafka bei Moritz Hermann Berlin-Steglitz Miquelstraße 8


Lieber Max, nur ein paar Worte zu Deiner Karte, meinen Brief hast Du ja inzwischen bekommen. E. war also Mittwoch Mittag bei mir, ich habe sie eigentlich durch ein Brot hergelockt, das in Steglitz leicht, in Berlin am Dienstag, nicht aus wirklichem Mangel, sondern aus andern undurchsichtigen, bei den hiesigen Zuständen täglich neu sich bildenden Ursachen schwierig zu haben war, (übrigens nur Dienstag, E, hat dann auch das Brot nicht für sich behalten, sondern es der Schwester geschenkt). Nun, E. war aufgeregt, was allerdings nicht hindert, dass sie zwischendurch auch munter war und gelacht hat. Aber diese Aufregung nur auf die Berliner Zustände zurückzuführen, das geht nicht. Die Aufregung und die Berliner Zustände hängen eben nur so zusammen, dass ein eintägiger Brotmangel, eine einmalige Schwierigkeit beim Geldwechseln genügt um die Tür für allen andern Jammer zu öffnen. Und diesem andern Jammer, nicht dem ersten, ist schwer zu begegnen. Übrigens hatte ich schwächliche Ausreden zu allem, nur zu dem einen nicht, wenn sie sagte, dass sie im Grunde auf alles verzichte und sich vollständig damit zufrieden geben würde, wenn Du nur alle 4 Wochen für 2 Tage kämest. Was ist dazu zu sagen? Besonders, wenn sie hinzufügt, dass Du zu der Winkler-Zeit, wenn es nötig oder nur nützlich oder auch nur angenehm gewesen wäre, sofort auf ihre Bitte oder auch nur auf ein Wort, eine Andeutung hin gekommen wärest, über alle Hochzeiten hinweg. Und dass sie doch nicht mehr verlangt, als dass Du kommst. Nun, man kann auch darauf gut antworten, aber es ist in diesem Fall nicht passend.

    Aber das alles ist ja für den Augenblick nicht mehr aktuell. Nach dem Telephongespräch mit Dir rief mich E. an, fröhlich, glückstrahlend, alles sei gut, etwas von "neugeboren" sagte sie, aber einen bessern stärkern Ausdruck. Ich führte die Wendung hauptsächlich darauf zurück, dass sie vom Schauspielerteater engagiert ist - eine wie es auch sei, wirklich ausgezeichnete, geradezu befreiende Sache - nach Deiner Karte sehe ich aber, dass die Abwälzung ihres Leides auf Dich auch viel zur "Neugeburt" beigetragen hat. Der Prager oder Aussiger Plan scheint mir nicht richtig und sehr gefährlich, nur in der Arbeit und der Musik ist Rettung, die äußern Verhältnisse sind bis jetzt bei weitem nicht so schlimm, wie Du glaubst, im allgemeinen vielleicht, im besondern gewiß nicht, ich lebe z. B. bis jetzt, was das Essen betrifft, genau so wie in Prag, Butter schickt man mir allerdings, aber auch sie ist zu haben. Nur um Dir eine Vorstellung von den Preisen zu geben; gerade an dem Telephongesprächstag aß ich zu Mittag in der Stadt, in einem vegetarischen Restaurant in der Friedrichstraße (ich esse sonst immer zuhause, seitdem ich hier bin, war es das zweite Gasthausessen), ich mit D. Wir hatten: Spinat mit Setzei und Kartoffeln (ausgezeichnet, mit guter Butter gemacht, an Menge allein schon sättigend), dann Gemüseschnitzel, dann Nudeln mit Apfelmus und Pflaumenkompot (davon gilt dasselbe wie vom Spinat), dann ein Pflaumenkompot extra, dann einen Tomatensalat und eine Semmel. Das Ganze hat mit übermäßigem Trinkgeld etwa 8 K gekostet, das ist doch nicht schlimm. Vielleicht war es eine Ausnahme, von Zufällen des Kursstandes beeinflußt, die Teuerung ist wirklich sehr groß, abgesehen vom Essen sich irgendetwas zu kaufen, ist ummöglich, aber wie gesagt, Essen gibt es noch in Berlin, und recht gutes. Darüber mach Dir keine Sorgen.

    Grüß Felix und Oskar, sag ihnen ein gutes Wort von mir.

    Vielleicht gehe ich heute mit E. ins Teater, "Volksfeind" mit Klöpfer. Ich war bis jetzt noch keinen Abend von zuhause fort.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Winkler-Zeit: Siehe Brods Brief vom 13.8.1922.


Prager oder Aussiger Plan: Brod dachte daran, "Emma Salveter" in die Tschechoslowakei zu bringen.


Volksfeind mit Klöpfer: In solchen Rollen wie Dr. Stockmann in Ibsens Volksfeind hatte der Charakterdarsteller Eugen Klöpfer (1886-1950) großen Erfolg.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at