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[Tagebuch, 16. Juni 1922; Freitag]

16 VI (1922) Ausbrüche der Geschmacklosigkeit, Verwirrung. - G. nach H.

Bei Besprechung dieses Buches ist man, ganz abgesehen von den nicht zu überwindenden Schwierigkeiten, welche die denkerische und visionäre Kraft Blühers immer bereitet auch dadurch in einer schwierigen Lage, dass man merkwürdig leicht, bei jeder Bemerkung fast, in den Verdacht kommt, man wolle die Gedanken dieses Buches ironisch abtun. Man kommt in diesen Verdacht, selbst wenn man wie ich angesichts dieses Buches von nichts weiter entfernt ist als von Ironie. Diese Schwierigkeit der Besprechung hat ein Gegenspiel in einer Schwierigkeit, die wiederum Blüher nicht überwinden kann. Er nennt sich einen Antisemiten ohne Haß, sine ira et studio, und er ist es wirklich, aber er erweckt sehr leicht, fast bei jeder Bemerkung, den Verdacht, dass er ein Judenfeind ist, sei es in glücklichem Haß, sei es in unglücklicher Liebe. Diese Schwierigkeiten stehen wie Naturgegebenheiten einander gegenüber und es ist notwendig auf sie aufmerksam zu machen, damit man beim Durchdenken des Buches nicht an diese Irrtümer stößt und sich dadurch von vornherein unfähig macht weiter zu dringen.

Zahlenmäßig, induktiv erfahrungsgemäß kann man nach Blüher das Judentum nicht widerlegen, diese Metode des alten Antisemitismus kann gegenüber dem Judentum nicht aufkommen, alle andern Völker kann man so widerlegen, die Juden das auserwählte Volk nicht, auf alle Einzelvorwürfe der Antisemiten wird der Jude mit Berechtigung einzelweise antworten können. Blüher gibt einen allerdings sehr flüchtigen Überblick solcher Einzelvorwürfe und ihrer Beantwortung.

Diese Erkenntnis ist soweit sie die Juden, nicht soweit sie die andern Völker betrifft, tief und wahr. Blüher zieht aus ihr zwei Folgerungen eine ganze und eine halbe.

Die ganze:

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at