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[Tagebuch, 10. Februar 1922; Freitag]

10 (Februar 1922) schlaflos, ohne den geringsten Zusammenhang mit Menschen außer dem von ihnen selbst hergestellten, der mich für den Augenblick überzeugt wie alles was sie tun

Neuer Angriff von G. Es ist klarer als irgendetwas sonst, dass ich, von rechts und links von übermächtigen Feinden angegriffen, weder nach rechts noch links ausweichen kann, nur vorwärts hungriges Tier führt der Weg zur eßbaren Nahrung, atembaren Luft, freiem Leben, sei es auch hinter dem Leben. Du führst die Massen, großer langer Feldherr, führe die Verzweifelten durch die unter dem Schnee für niemanden sonst auffindbaren Paßstraßen des Gebirges. Und wer gibt Dir die Kraft? Wer Dir die Klarheit des Blickes gibt.

Der Feldherr stand beim Fenster der verfallenen Hütte und blickte mit aufgerissenen, unschließbaren Augen in die Reihen der draußen in Schnee und trübem Mondlicht vorbeimarschierenden Truppen. Hie und da schien es ihm, als mache ein Soldat außerhalb der Reihen beim Fenster halt, drücke das Gesicht an die Scheiben, blicke ihn kurz an und gehe dann weiter. Trotzdem es immer ein anderer Soldat war, schien es immer der gleiche zu sein, ein Gesicht mit starken Knochen, dicken Wangen, runden Augen, rauher gelblicher Haut und immer während er weggieng, brachte er das Riemenzeug in Ordnung, zuckte mit den Schultern und schwang die Beine, um wieder in Taktschritt mit der im Hintergrund unverändert marschierenden Masse zu kommen. Der Feldherr wollte dieses Spiel nicht länger dulden, lauerte auf den nächsten Soldaten, riß vor ihm das Fenster auf und packte den Mann an der Brust. "Herein mit Dir" sagte er und ließ ihn durch das Fenster einsteigen. Dort trieb er ihn vor sich in eine Ecke, stellte sich vor ihn und fragte: "Wer bist Du?" "Nichts" sagte ängstlich der Soldat. "Das ließ sich erwarten" sagte der Feldherr. "Warum hast Du hereingeschaut?" Um zu sehn ob Du noch hier bist.

In seiner Hand hielt er einen Brief

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at