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[Tagebuch, 30. Januar 1922; Montag]

30 (Januar 1922) Warten auf die Lungenentzündung. Furcht nicht so sehr vor der Krankheit als wegen der Mutter und vor ihr, vor dem Vater, dem Direktor und weiterhin allen. Hier scheint es deutlich zu sein, dass die 2 Welten bestehn und dass ich der Krankheit gegenüber so unwissend, so beziehungslos, so ängstlich bin wie etwa gegenüber dem O. Sonst aber scheint mir die Teilung allzu bestimmt, in ihrer Bestimmtheit gefährlich, traurig und zu herrisch zu sein. Wohne ich denn in der andern Welt? Wage ich das zu sagen?

Wenn jemand sagt: "Was liegt mir denn am Leben? Nur wegen meiner Familie will ich nicht sterben. " Aber die Familie ist ja eben die Repräsentantin des Lebens, also will er doch wegen des Lebens am Leben bleiben. Nun das scheint was die Mutter betrifft, für mich auch zu gelten, aber erst in letzter Zeit. Ob es aber nicht die Dankbarkeit und Rührung ist, die mich dazu bringt, Dankbarkeit und Rührung, weil ich sehe, wie sie mit für ihr Alter unendlicher Kraft sich bemüht meine Beziehungslosigkeit zum Leben auszugleichen. Aber Dankbarkeit ist auch Leben.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at