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[Tagebuch, 29. Januar 1922; Sonntag]

29 (Januar 1922) Angriffe auf dem Weg im Schnee am Abend. Immer die Vermischung der Vorstellungen etwa so: In dieser Welt wäre die Lage schrecklich, hier allein in Sp., überdies auf einem verlassenen Weg, auf dem man im Dunkel im Schnee fortwährend ausgleitet, überdies ein sinnloser Weg ohne irdisches Ziel (zur Brücke? Warum dorthin? Außerdem habe ich sie nicht einmal erreicht), überdies auch ich verlassen im Ort, (den Arzt kann ich nicht als menschlich persönlichen Helfer rechnen, ich habe mir ihn nicht verdient, habe im Grunde nur die Honorarbeziehung zu ihm), unfähig mit jemandem bekannt zu werden, unfähig eine Bekanntschaft zu ertragen, im Grunde voll endlosen Staunens vor einer heiteren Gesellschaft (hier im Hotel ist allerdings nicht viel Heiteres, ich will nicht soweit gehn zu sagen, dass ich die Ursache dessen bin, etwa als "der Mann mit dem allzu großen Schatten" aber mein Schatten ist in dieser Welt tatsächlich allzu groß, und mit neuem Staunen sehe ich die Widerstandsfähigkeit mancher Menschen dennoch "trotz allem" auch in diesem Schatten, gerade in ihm leben zu wollen; aber hier kommt doch noch anderes hinzu, wovon noch zu reden ist) oder gar vor Eltern mit ihren Kindern überdies nicht nur hier so verlassen sondern überhaupt, auch in Prag meiner "Heimat" undzwar nicht von den Menschen verlassen, das wäre nicht das Schlimmste, ich könnte ihnen nachlaufen, solange ich lebe, sondern von mir in Beziehung auf die Menschen, von meiner Kraft in Beziehung auf die Menschen, ich habe Liebende, aber ich kann nicht lieben, ich bin zu weit, bin ausgewiesen, habe da ich doch Mensch bin und die Wurzeln Nahrung wollen, auch dort "unten" (oder oben) meine Vertreter, klägliche ungenügende Komödianten, die mir nur deshalb genügen können (freilich, sie genügen mir gar nicht und deshalb bin ich so verlassen) weil meine Hauptnahrung von andern Wurzeln in anderer Luft kommt, auch diese Wurzeln kläglich, aber doch lebensfähiger.

Dieses leitet über zu der Vermischung der Vorstellungen. Wäre es nur so, wie es auf dem Weg im Schnee scheinen kann, dann wäre es schrecklich, dann wäre ich verloren, dies nicht als eine Drohung aufgefaßt sondern als sofortige Hinrichtung. Aber ich bin anderswo, nur die Anziehungskraft der Menschenwelt ist ungeheuerlich, in einem Augenblick kann sie alles vergessen machen. Aber auch die Anziehungskraft meiner Welt ist groß, diejenigen, welche mich lieben, lieben mich, weil ich "verlassen" bin, undzwar vielleicht doch nicht als Weiß'sches Vacuum, sondern weil sie fühlen, dass ich die Freiheit der Bewegung, die mir hier völlig fehlt, auf einer andern Ebene in glücklichen Zeiten habe.

Wenn M. z. B. hierher plötzlich käme, es wäre schrecklich. Zwar äußerlich wäre meine Stellung vergleichsweise sofort glänzend. Ich wäre geehrt als ein Mensch unter Menschen, ich bekäme mehr als nur förmliche Worte, ich säße (freilich weniger aufrecht als jetzt, da ich allein sitze, und auch jetzt sitze ich zusammengefallen) am Tisch der Schauspielergesellschaft, ich wäre Dr. H. social äußerlich fast ebenbürtig - aber ich wäre abgestürzt in eine Welt, in der ich nicht leben kann. Bleibt nur das Rätsel zu lösen, warum ich in Marienbad 14 Tage glücklich war und warum ich es infolgedessen, allerdings nach der schmerzensvollen Grenzdurchbrechung, vielleicht auch hier mit M. werden könnte. Aber wohl viel schwerer als in Marienbad, die Ideologie ist fester, die Erfahrungen größer. Was früher ein trennendes Band war, ist jetzt eine Mauer oder ein Gebirge oder richtiger: ein Grab.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at