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[Tagebuch, 23. Januar 1922; Montag]

23. (Januar 1922) Wieder kam Unruhe. Woher?Aus bestimmten Gedanken, die schnell vergessen werden, aber die Unruhe unvergeßlich hinterlassen. Eher als die Gedanken könnte ich den Ort angeben, wo sie kamen, einer z. B. auf dem kleinen Rasenweg, der an der Altneusynagoge vorüberfährt. Auch Unruhe aus einem gewissen Wohlbehagen, das hie und da scheu und fern genug sich näherte. Unruhe auch daraus, dass der nächtliche Entschluß nur Entschluß bleibt. Unruhe daraus, dass mein Leben bisher ein stehendes Marschieren war, eine Entwicklung höchstens in dem Sinn, wie sie ein hohlwerdender, verfallender Zahn durchmacht. Es war nicht die geringste sich irgendwie bewährende Lebensführung von meiner Seite da. Es war so als wäre mir wie jedem andern Menschen der Kreismittelpunkt gegeben, als hätte ich dann wie jeder andere Mensch den entscheidenden Radius zu gehn und dann den schönen Kreis zu ziehn. Statt dessen habe ich immerfort einen Anlauf zum Radius genommen, aber immer wieder gleich ihn abbrechen müssen (Beispiele: Klavier, Violine, Sprachen, Germanistik, Antizionismus, Zionismus, Hebräisch, Gärtnerei, Tischlerei, Litteratur, Heiratsversuche, eigene Wohnung) Es starrt im Mittelpunkt des imaginären Kreises von beginnenden Radien, es ist kein Platz mehr für einen neuen Versuch, kein Platz heißt Alter, Nervenschwäche, und kein Versuch mehr bedeutet Ende. Habe ich einmal den Radius ein Stückchen weitergeführt als sonst, etwa bei Jusstudium oder bei den Verlobungen, war alles eben um dieses Stück ärger, statt besser.

Habe M. von der Nacht erzählt, ungenügend. Symptome nimm hin, klage nicht über Symptome, steige in das Leiden hinab.

Herzunruhe

Die andere Ansicht: aufgespart. Die dritte Ansicht: schon vergessen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at