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[Tagebuch, 22. Januar 1922; Sonntag]

22 (Januar 1922) Nächtlicher Entschluß

Die Bemerkung hinsichtlich der "Junggesellen der Erinnerung" war hellseherisch, allerdings Hellseherei unter sehr günstigen Voraussetzungen. Die Ähnlichkeit mit O. R. ist aber noch darüber hinaus verblüffend: beide still (ich weniger) beide von den Eltern abhängig (ich mehr) mit dem Vater verfeindet, von der Mutter geliebt (er noch zu dem schrecklichen Zusammenleben mit dem Vater verurteilt, freilich auch der Vater verurteilt) beide schüchtern überbescheiden (er mehr) beide als edle gute Menschen angesehn wovon bei mir nichts und meines Wissens auch bei ihm nicht viel zu finden war (Schüchternheit, Bescheidenheit, Ängstlichkeit gilt als edel und gut, weil sie den eigenen expansiven Trieben wenig Widerstand entgegensetzt) beide zuerst hypochondrisch, dann wirklich krank, beide als Nichtstuer von der Welt ziemlich gut erhalten (er, weil er ein kleinerer Nichtstuer war, viel schlechter erhalten, soweit man bis jetzt vergleichen kann) beide Beamte (er ein besserer) beide allereinförmigst lebend ohne Entwicklung jung bis zum Ende, richtiger als jung ist der Ausdruck konserviert, beide nahe am Irrsinn, er, fern von Juden, mit ungeheuerem Mut, mit ungeheuerer Sprungkraft (an der man die Größe der Irrsinnsgefahr ermessen kann) in der Kirche gerettet, bis zum Ende noch, soweit man sehen konnte, lose gehalten, er selbst hielt sich wohl schon Jahre lang nicht. Ein Unterschied zu seinen Gunsten oder Ungunsten war, dass er eine kleinere künstlerische Begabung hatte als ich, also in der Jugend einen bessern Weg hätte wählen können, nicht so zerrissen war, auch durch Ehrgeiz nicht. Ob er um Frauen (mit sich) gekämpft hat, weiß ich nicht, eine Geschichte die ich von ihm gelesen habe, deutete daraufhin, auch erzählte man, als ich ein Kind war, etwas dergleichen. Ich weiß viel zu wenig von ihm, danach zu fragen wage ich nicht. Übrigens schrieb ich bis hierher leichtsinnig über ihn wie über einen Lebenden. Es ist auch unwahr, dass er nicht gut war, ich habe an ihm keine Spur von Geiz, Neid, Haß, Gier bemerkt; um selbst helfen zu können, war er wahrscheinlich zu gering. Er war unendlich viel unschuldiger als ich, hier gibt es keinen Vergleich. Er war in Einzelnheiten eine Karrikatur von mir, im Wesentlichen aber bin ich seine Karrikatur.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at