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[Tagebuch, 21. Januar 1922; Samstag]

21 (Januar 1922) Es ist noch nicht zu still. Plötzlich im Teater angesichts des Gefängnisses Florestans öffnet sich der Abgrund. Alles, Sänger, Musik, Publikum, Nachbarn, alles ferner als der Abgrund.

So schwer war die Aufgabe niemandes, soviel ich weiß. Man könnte sagen: es ist keine Aufgabe, nicht einmal eine unmögliche, es ist nicht einmal die Unmöglichkeit selbst, es ist nichts, es ist nicht einmal soviel Kind, wie die Hoffnung einer Unfruchtbaren. Es ist aber doch die Luft, in der ich atme, solange ich atmen soll.

Ich schlief nach Mitternacht ein, erwachte um 5, eine außergewöhnliche Leistung, außergewöhnliches Glück, außerdem war ich noch schläfrig. Das Glück war aber mein Unglück, denn nun kam der nicht abzuwehrende Gedanke: soviel Glück verdienst Du nicht, alle Götter der Rache stürzten auf mich herab, ich sah ihren wütenden Obersten die Finger wild spreizen und mir drohen oder fürchterlich Cymbel schlagen. Die Aufregung der 2 Stunden bis 7 Uhr verzehrte nicht nur den Schlafgewinn, sondern machte mich den ganzen Tag über zittrig und unruhig.

Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahrens-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich.

Für alles gibt es künstlichen, jämmerlichen Ersatz: für Vorfahren, Ehe und Nachkommen. In Krämpfen schafft man ihn und geht, wenn man nicht schon an den Krämpfen zugrunde gegangen ist, an der Trostlosigkeit des Ersatzes zugrunde

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at