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An M. E.

[Prag, Herbst 1922]
 

Liebe Minze, Ihr Brief hat mir große Freude gemacht, denn er zeigt, dass Sie den Hindernissen, die ich zu kennen glaube und den gewiß noch bestehenden mir unbekannten nicht nachgegeben haben und Ihr selbständiges tapferes Leben weiterführen. Die Einladung nehme ich natürlich an; wie sollte ich sie nicht annehmen. Sie als Hausfrau, dann Ruhe, Wald und Garten. Freilich meine Transportabilität, nicht so sehr die körperliche als die geistige, ist beschränkt. Im Sommer z. B. hätte ich nach Thüringen zu Freunden fahren sollen und brachte es, trotzdem es mir körperlich recht gut ging, nicht zustande. Das ist schwer zu erklären. Aber vielleicht gelingt es mit Kassel. Was ist es übrigens für eine Villa und für ein Grund? Eine Handelsgärtnerei? Oder nur ein Ruhesitz, das doch wohl nicht? Und allein können Sie doch dort nicht wohnen, mit was für Leuten wohnen Sie? Es gibt in den "Studien" von Stifter eine Geschichte "Zwei Schwestern" von einer großartigen gärtnerischen Leistung eines Mädchens, kennen Sie die Geschichte? Merkwürdigerweise spielt sie am Gardasee, von dem, glaube ich, einmal in ähnlichem Zusammenhang die Rede zwischen uns war. Es scheint ein Traum zu sein, den mancher träumt.

Die Beichte. Dazu ausgewählt sein, sie anhören zu dürfen, ist schon eine unausweichliche ernste Verpflichtung, nur bitte erhoffen Sie nichts davon: was müßte das für ein Mann sein, von dem man etwas erhoffen dürfte, wenn man ihm beichtet. Einern Menschen beichten oder es in den Wind rufen, ist meist das Gleiche, so gut der arme schwache Wille auch sein mag. In der Verwirrung des eigenen Lebens sich herumtreiben und von den Verwirrungen eines andern hören, was könnte man anderes sagen, als: "Allerdings so ist es, so geht es zu", was freilich ein Trost sein mag, aber kein hoher. Schreiben Sie aber, liebe Minze, wenn es Sie drängt. Respekt und Teilnahme bis an die Grenze meiner Kräfte wird es bei mir gewiß finden.

Sie fragen nach meiner Krankheit, so schlimm ist sie nicht, wie sie vor der geschlossenen Tür des Krankenzimmers aussieht, aber ein wenig brüchig ist das Gebäude, doch ist es jetzt schon besser und war noch vor 2 Monaten sogar recht gut. Es ist eben eine etwas verwirrte Kriegslage. Die Krankheit selbst, als Kampftruppe angesehn, ist das gehorsamste Geschöpf der Welt, ihre Augen sind nur auf das Hauptquartier gerichtet, und was man dort befiehlt, das tut sie, doch ist man oben oft unsicher in den Entschlüssen und auch sonst gibt es Mißverständnisse. Die Teilung zwischen Hauptquartier und Truppe sollte aufhören.

Leben Sie wohl, liebe Minze, und alles Gute zu Ihren Reisen undUnternehmungen

Ihr Kafka




Einladung: Es geht um den Roman "Schwermut der Jahreszeiten" (Berlin, 1922) von Wilhelm Speyer, einem Autor, den Kafka sonst schätzte. 26 ) Minze E. hatte Kafka in ihre Villa in Wilhelmshöhe bei Kassel eingeladen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at