Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Oskar Baum]
[Prag, 16. Juli 1922; Sonntag]

Lieber Oskar, nur ein paar Worte heute: äußerlich bin ich wegen meines Nichtfahrens gerechtfertigt, ich hätte, wie sich jetzt herausstellt, auf keinen Fall zu Euch fahren können. Am Fünfzehnten hätte ich nach dem ersten Plan fahren sollen, aber am Vierzehnten nachmittag bekam ich in Planá ein Telegramm, dass mein Vater, in Franzensbad schwer erkrankt, nach Prag transportiert worden ist. Ich fuhr gleich nach Prag, noch am Vierzehnten abends wurde der Vater operiert, es ist wahrscheinlich nichts Bösartiges, nichts Organisches; Klemmung des Darms infolge Nabelbruchs oder etwas derartiges (ich wage Ärzte nicht zu fragen, und wenn sie trotzdem antworten, verstehe ich sie nicht), aber immerhin, eine sehr schwere Operation, ein Siebzigjähriger, geschwächt durch knapp vorhergehende, vielleicht mit dem Leiden zusammenhängende Kränklichkeit, ein krankes Herz überdies; bis heute, zwei Tage nach der Operation, geht es allerdings bezaubernd gut.
Aber ich will noch von meinem Nichtfahren sprechen. Ich hatte mir Deine Karte genau zu untersuchen vorgenommen, auf jedes Wort hin und auf alle Hintergedanken jedes Wortes hin. Zum ersten und auch noch zum zweiten Male gelesen, war ja die Karte äußerst lieb und beruhigend. Später aber - ich kam mit der Untersuchung nicht zu Ende, weil ich nach Prag fahren mußte - stockte ich doch hie und da, besonders bei der "Fürsorgeattacke". Wie wagst Du, Oskar, ein solches Wort hinzuschreiben? Eine Fürsorgeattacke (ich kann das Wort nicht einmal schreiben, mit qu soll es wohl geschrieben werden?), bei der ich Tag für Tag zu Dir hinaufkomme, Dich bei der Arbeit störe und die günstigsten Eisenbahnverbindungen Dir abzubetteln suche, in der geheimen Hoffnung, dass man, wenn ich nur oft genug frage, vielleicht auch nur mit der Elektrischen Georgental erreichen kann. Also nichts von Fürsorgeangriff, bitte! Und mißverstehe mein Leid nicht damit, dass Du glaubst, nur die Schönheit von Planá habe mich gehindert zu kommen. Planá ist ja schön, aber ich suche Ruhe vor der Schönheit und ich habe dort schon vor und nach der imaginären Georgentaler Reise Lärmtage erlebt, dass ich mein Leben verflucht habe und viele Tage brauchte, um die Lärmangst, das niemals erfolglose Lauern auf den Lärm, die Verwirrung im Kopf, die Schmerzen in den Schläfen loszuwerden, worauf dann allerdings die Wirkung der Maßnahmen Ottlas, der Allersorgsamsten, sich wieder abgeschwächt hatte und neuer schrecklicher Lärm bereit war. - Genug für heute und alles Gute Dir und Euch.

Dein F


Warum schweigt Frau Horn?

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at