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Brief an Max Brod

[ Prag, Dezember 1922 ]

Lieber Max, in der Hauptsache zu Deiner Information, weil Werfel zu Dir kommen wird, nebenbei um mich in Gedanken von Dir trösten zu lassen:

    Gestern war Werfel mit Pick bei mir, der Besuch, der mich sonst sehr gefreut hätte, hat mich verzweifelt gemacht. W. wußte ja, dass ich "Schweiger" kenne, ich sah also voraus, dass ich von ihm werde reden müssen. Wenn es nur ein gewöhnliches Mißfallen wäre, um ein solches kann man sich herumwinden; für mich aber bedeutet das Stück viel, es geht mir sehr nahe, trifft mich abscheulich im Abscheulichsten, ich hatte nicht im entferntesten daran gedacht, dass ich Werfel würde einmal etwas darüber sagen müssen, war mir selbst sogar über die Gründe des Widerwillens nicht ganz im Klaren, denn für mich hatte es angesichts des Stücks nicht die geringste innere Disputation gegeben, sondern nur das Verlangen, es abzuschütteln. Bin ich für "Anna" von Hauptmann vielleicht ertaubt, so bin ich für diese Anna und den Rattenkönig um sie herum hellhörig bis zur Qual; nun diese Gehörerscheinungen hängen ja zusammen. Wenn ich heute die Gründe meines Widerwillens Susammenfassen soll, dann etwa derart: Schweiger und Anna sind (wie natürlich auch ihre nahe Umgebung: die schreckliche Strohschneider, der Professor, der Dozent) keine Menschen (erst in der weiteren Umgebung: Kooperator, Sozialdemokraten, entsteht ein wenig Scheinleben). Um dies erträglich zu machen, erfinden sie eine ihre Höllenerscheinung verklärende Legende, die psychiatrische Geschichte. Nun können sie aber ihrer Natur nach wieder nur etwas ebenso Unmenschliches erfinden, wie sie selbst sind, und der Schrecken verdoppelt sich. Aber er verzehnfacht sich noch durch die scheinbare, alle Seitenblicke vermeidende Unschuld des Ganzen.

    Was sollte ich Werfel sagen, den ich bewundere, den ich sogar in diesem Stück bewundere, hier allerdings nur wegen der Kraft, diesen dreiaktigen Schlamm durchzuwaten. Dabei ist mein Gefühl dem Stück gegenüber so persönlich, dass es vielleicht nur für mich gilt. Und er kommt in reizender Freundlichkeit zu mir und ich soll ihm, wenn er einmal nach Jahren kommt, mit solchen unausgetragenen, unaustragbaren Beurteilungen empfangen. Aber ich konnte nicht anders und schwätzte mir ein wenig Ekel vom Herzen. Aber ich litt den ganzen Abend und die ganze Nacht an den Folgen. Außerdem habe ich vielleicht Pick beleidigt, den ich in meiner Aufregung kaum bemerkte. (Über das Stück habe ich übrigens erst nach Picks Weggang gesprochen.)

Gesundheitlich geht es mir besser.

Alles Gute im Leben und auf der Bühne.


F.         


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Schweiger": Franz Werfel, Schweiger. Ein Trauerspiel in drei Akten, München: Kurt Wolff, Winter 1922. Siehe Kafkas Schreiben an Werfel vom Dezember 1922 (Br 424 f.) sowie H 275-278.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at