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[Stempel Planá, 16.8.1922]

[An:] Herrn Dr. Max Brod Misdroy an der Ostsee postlagernd Německo

[Abs.:] Dr Franz Kafka Planá nad Lužnici Tschechoslowakische Republik


Lieber Max, ich werde zusammenstellen, was ich besser zu verstehn glaube als Du, und dann das, was ich nicht verstehe. Vielleicht wird sich dann herausstellen, dass ich gar nichts verstehe, was leicht möglich wäre, denn die Fülle ist groß, die Ferne auch, dazu kommt die Sorge um Dich, dem es ja vielleicht noch schlechter geht, als Du zugestehst, aus dem allen kann sich nur ein nebelhaftes Bild ergeben.

    Zunächst und vor allem verstehe ich nicht, warum Du die Vorzüge W's so hervorhebst, etwa um (mit dem ruhigen Schreiben ist es tuende, es ist Gewitter, mein Schwager, ein wenig verlassen, ist gekommen und sitzt bei meinem Tisch, meinem Tisch? es ist ja seiner, und dass das schöne Zimmer mir überlassen ist und die dreigliedrige Familie in einem kleinen Zimmerchen - abgesehen von der großen Küche allerdings - beisammenschläft, ist eine unbegreifliche Wohltat, besonders wenn ich daran denke, wie an den ersten Tagen, als die Einteilung noch anders war, mein Schwager am Morgen fröhlich sich in seinem Bette streckte und als das Schönste an der Sommerwohnung es bezeichnete, dass man gleich beim Aufwachen vom Bett aus eine so große Aussicht hat, die Wälder in der Ferne u. s. w. und schon ein paar Tage später schlief er im kleinen Zimmer mit dem Hof des Nachbars als Aussicht und dem Kamin der Säge - ich erwähne das alles, um - nein, der Zweck bleibe unausgesprochen) - nun aber was Dich betrifft. W. hat nach allem durchaus keine Übermacht, aber die Wage scheint, wenigstens im Augenblick, so sorgfältig austariert, als es nötig ist, um alle entsetzlich züi quälen. W. hat keine Übermacht, er kann nicht heiraten, er kann nicht helfen, er kann nicht E. zur Mutter machen oder: wenn er es könnte, hätte er es schon getan und es hätte sich Dir gegenüber viel gewalttätiger angekündigt. Also nichts von den anständigen Motiven dort und von den bösen hier. Er liebt E. und Du liebst sie; wer will hier entscheiden, da nicht einmal E. völlig es kann. Er hat für sich die Gestalt und Lockung der Jugend, gar für eine ältere Frau, das ist sehr viel, besonders wenn auch das Judentum nicht so sehr Dich belastet, als ihn verklärt. Aber Du hast doch offenbar viel mehr und Dauernderes, hast männliche Liebe, männliche Hilfe und gibst unaufhörlich bald Traum bald Wirklichkeit des Künstlertums. Was kann Dich also in dieser Hinsicht verzweifelt machen? Offenbar nicht die Aussichten Deines Kampfes, sondern der Kampf selbst und seine Zwischenfälle. Darin hast Du freilich Recht; das könnte ich gar nicht, nicht die leichteste Andeutung dessen könnte ich ertragen, aber wie vieles erträgst Du, wovor ich davonlaufe oder das vor mir davonläuft. Hier bin ich wahrscheinlich dazu gekommen, Dich zu überschätzen, hier habe ich kein auch nur halbwegs verständiges Urteil über Deine Kraft.

    Dann das zweite: E. lügt, und lügt grenzenlos, etwas was freilich mehr ein Beweis für ihre Not ist als für ihre Lügenhaftigkeit. Und es scheint auch, dass es eine Art nachträgliche Lügenhaftigkeit ist, so etwa, dass sie behauptet, sie sage ihm nicht Du, was wahr ist, aber gleich darauf sagt sie es ihm wirklich, teilweise auch durch jene Behauptung verführt und unfähig jetzt die Behauptung zurückzunehmen. Immerhin, das hätte ich nicht erwartet und verstehe es noch immer nicht, verstehe dabei auch nicht, wie Du von Selbstdemütigung sprechen kannst, da es doch eigentlich der Zusammenbruch ihres Gebäudes ist und Bitte an Dich, als Mann und Helfer es irgendwie gutzumachen. Sie flüchtet ja ganz zu Dir, wenigstens wenn Du bei ihr bist, der Brief, den sie trotz Deiner Bitten geschrieben hat, war ja, wenn ich es recht verstehe, nur allzusehr in Deinem Sinn geschrieben, ähnlich wie die gequälte und doch auch wahre Karte an mich.

    Lasse ich alle erschwerenden Nebenumstände weg, deren allerdings der Fall übergenug hat, sehe ich das Grundschema so: Du willst das Unmögliche aus einer nicht nachlassenden Bedürftigkeit, das wäre noch nichts Großes, das wollen viele, aber Du dringst weiter vor als irgendjemand, den ich kenne, kommst bis knapp ans Ziel, nur knapp heran, nicht ganz ans Ziel, denn das ist ja das Unmögliche, und an dieser "Knappheit" leidest Du und mußt Du leiden. Es gibt Steigerungen des Unmöglichen, auch Graf von Gleichen hat etwas Unmögliches versucht - auf die Frage nach dem Gelingen antworten wahrscheinlich nicht einmal Gräber -, aber so unmöglich wie Deines war es nicht, er hat sie nicht im Morgenland gelassen und mit ihr eine Ehe über das Mittelländische Meer hinweg geführt. Aber auch dieses Letztere wäre möglich, wenn er wider Willen an seine erste Ehefrau gebunden wäre, so dass, was bei ihr Sehnsucht oder Leere oder Zufluchtsbedürftigkeit oder der Teufel Mieze ist, bei ihm, zum Dank und Trost, Verzweiflung über seine erste Ehe wäre, aber das ist doch hier nicht der Fall, Du bist nicht verzweifelt und Deine Frau erleichtert Dir sogar das schwere Leben. Dann aber bleibt meiner Meinung nach, wenn Du Dich vor Selbstzerstörung bewahren willst (ich erschauere, wenn ich daran denke, dass Du auch nachhause schreiben mußt), nichts anderes übrig, als das Ungeheuerliche (aber gegenüber dem, was Du in den letzten Jahren gelitten hast, zunächst nur äußerlich Ungeheuerliche) zu versuchen und wirklich E. nach Prag zu nehmen oder wenn dies aus verschiedenen Rücksichten zu peinlich wäre, Deine Frau nach Berlin zu nehmen, also nach Berlin zu übersiedeln und offen, zumindest offen für Euch drei, zu dritt zu leben. Dann entfällt fast alles bisherige Böse (mag auch neues unbekanntes Böse herankommen): die Angst vor W., die Angst vor der Zukunft (die jetzt nach Überwindung des W. doch bliebe), die Sorge um Deine Frau, die Angst wegen der Nachkommenschaft und sogar wirtschaftlich wird Dein Leben leichter sein (denn die Kosten der Erhaltung E's in Berlin würden ja jetzt die bisherige Last wohl verzehnfachen). Nur ich würde Dich aus Prag verlieren. Aber warum sollte nicht, wo für zwei Frauen um Dich Platz ist, auch noch irgendwo ein Platz für mich sein.

    Vorläufig würde ich Dich schon sehr gern heil aus diesen Höllenferien zurückgekommen sehn.

F.         


Deine Frau: vielleicht wäre es gar nicht so verzweifelt schwer, sie für den Plan zu gewinnen. Ich sprach jetzt in Prag mit Felix, er glaubt, dass es unmöglich sei, dass sie nichts wisse (d. h. dass sie verhältnismäßig fröhlich dulde). Es fällt mir auch der Brief Storms ein, den sie einmal mit Vorliebe zeigte.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Graf von Gleichen: Eine Bearbeitung dieser mittelalterlichen Legende vom Ritter zwischen zwei Frauen - Der Graf von Gleichen von Wilhelm Schmidtbonn (1876-1952) - hatte Kafka im Jahre 1912 gesehen (T 243 ).


Brief Storms: Nicht identifiziert.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at