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[Misdroy]

Sonntag [13. 8.1922]
 

Lieber Franz

Ich habe eine so schwere Zeit noch nie durchgemacht. Hoffnungslos ist meine Lage nicht, nur furchtbar schwer, jedenfalls gar nicht ferienhaft. -Die Jorinde-Novelle ist ein interessanter Beleg dafür, wie man sich alles doch nur optimistisch zurechtdeutet. Der Held der Novelle ist grundlos eifersüchtig. Dann schrieb ich noch einen Essai über tierhart Hauptmanns "Vertrauen zum Weib". Die tatsächliche Lage aber, die ich antraf, war über mein Erwarten fortgeschritten. Das mit dem "Vertrauen" ist eben keine Eselsbrücke. - Emmy glaubt ganz ehrlich mich zu lieben. Aber auch den andern "mag sie gern". Es ist ganz klar, dass sie in abstracto den Entschluß hat, bei mir zu bleiben, - und zwar sieht sie von sich selbst ein, dass nur ich sie zur Künstlerschaft führen kann. Das legt mir natürlich ungeheure Verpflichtungen auf, Verantwortung. Wir haben hier öfters gesungen, ihre Stimme hat seit Schandau ( ½2 Jahr) ungeheure Fortschritte gemacht. Ob sie ausreicht, ist mir noch immer nicht klar. Eher ja als nein. -Herr Winkler ist 22 Jahre alt (Emmy 29), er will sie heiraten. Sie sagte mir selbst, dass sie sich nach legaler Ehe, Mutterschaft sehnt, "Manchmal" "Es ist überwunden". - Ihren Worten nach bin ich immer siegreich. Aber die Gedanken gehen zum andern - und ich habe den furchtbaren Eindruck, dass auf meiner Seite hauptsächlich das Geld kämpft-ferner die Sinnlichkeit, die in ihr stundenweise erwacht, dann verschwindet (ich bin darauf angewiesen, solche Viertelstunden, in denen sie mich braucht, zu erlauern). Auf Seite des Herrn W. dagegen kämpfen die anständigsten Motive. Allerdings spricht sie oft gegen das Philisterium einer Hausfrau. - Wist arm, macht jetzt erst den Doktor, hat die Eltern zu ernähren, noch keine Anstellung, sie müßte 5 Jahre (manchmal sagt sie 10) verlobt sein, dann ist sie alt; ob er sie noch will, fraglich. - So stellt sie mir die Situation dar. - Sie sind per "Du", waren täglich beisammen. Ehe sie nach Misdroy fuhr, war sie 3 Tage bei ihm in Dürrenberg, knapp vorher 2 Tage. Und nach Misdroy wird sie für 8 Tage hinfahren, sie "muß inhalieren" - (D. ist so ähnlich wie Reichenhall), sie wird bei seinen Eltern wohnen, die für sie als Schwiegertochter begeistert sind u.s.f. - Das ist doch anders als der "Mechaniker", wie?? - Wie wir zusammenkamen, machte sie sehr bald den Vorschlag, dass sie von September ab nach Berlin zieht, die Sache mit W war "Zeitverschwendung", es führte sie "hinunter" statt "hinauf" u.s.f. Natürlich war ich glücklich. Durch Vermittlung von Dr Kayser (N. Rundschau) ist eine Wohnung in Aussicht. Ein besserer Lehrer, ruhige Umgebung. - Emmy schiebt nämlich alle Schuld an der W.-Sache auf ihre Schwester Mieze. Die ist der Teufel. Quälereien, Skandale durch Mieze bewirkten, dass Emmy eine "Zuflucht" brauchte. Da bot sich W. - Die acht Tage in Dürrenberg bekamen nun einen neuen Sinn. Sie will sie benützen, um ihm in aller Feinheit Adieu zu sagen, denn er hat nur Dank von ihr verdient. - Trotz meiner flehentlichen Bitten schrieb sie ihm am ersten Tag unseres Misdroyer Aufenthalts. Gestern nun hatte ich mich so ungefähr ins Gleichgewicht gebracht, der Herbst würde alles in die alte Ordnung bringen u.s.f., - da kam seine Antwort. Offenbar hat Emmy schon deutlich von Abschied geredet, denn seit dem Brief weint sie, er droht mit Selbstmord. Dabei sollte ich bis gestern glauben, dass die Sache "harmlos" sei. Jede Eifersuchtswallung wurde mir als Unrecht verwiesen. So tief gedemütigt habe ich mich noch nie im Leben. - Auch gestern nun gelang es mir, allmählich Emmy zu trösten. Sie hat ihm auf meinen Rat freundlich telegraphiert. Nachher wurde sie ruhiger. Jedenfalls ißt sie doppelt so viel als ich. - Ja richtig: sein Brief ist aus Goehren, also S Stunden Entfernung. Die Möglichkeit, dass er kommen könnte, wird von Emmy allerdings bestritten. - Ich schreibe dir am Morgen nach diesem Tage. Die Nacht war nicht schlechter als die andern bisher (nur 1 oder 2 Nächte habe ich geschlafen). Die getrennten Zimmer sind eine Qual. Emmy hält an mir fest. Auch gestern sagte sie das immerfort. Aber der andere tut ihr furchtbar leid. Daß sie nicht so viel hätte mit ihm kokettieren sollen, darf ich nicht sagen. Auch nicht, dass ich sie gewarnt habe. - Schuld ist nach ihr Mieze und seltsamerweise auch ich, obwohl ich sie so bat den Brief nicht zu schicken (allerdings aus anderem Grund), behauptet sie, ohne meine Verzweiflung hätte sie besser Abschied genommen. - Sie hat über alles 3 bis 4 verschiedene Ansichten. - Wo ist dein Brief an mich? Ich erwarte eine (wenn auch kleine) Hilfe von ihm und du schreibst nicht.

Max        


Wie geht es dir? Ich denke sehr sehr viel an dich. Schreibe!

Adresse bis 20. B. Dr Max Brod-Misdroy/Ostsee, postlagernd



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Vertrauen zum Weib": Nicht identifiziert.


Dürrenberg: Bad Dürrenberg bei Merseburg (Halle).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at