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Brief an Max Brod

[ Planá, Ankunftstempel: 7. 8. 22 ]


Liebster Max, noch schnell einen Gruß vor der Reise (soweit es unten Hausfrau, Neffen und Nichte - der Hausfrau nämlich - erlauben). In Deiner Reihenfolge:

    Bílek: dass Du das wirklich versuchen willst, was ich nur als eigentlich phantastischen Wunsch auszusprechen wagte, zu mehr reicht die Kraft nicht, freut mich ungemein. Es wäre meiner Meinung nach ein Kampf von dem Rang des Kampfes für Jaháček, soweit ich das verstehe (fast hätte ich geschrieben: des Kampfes für Dreyfus) wobei nicht Bílek der Jaháček oder Dreyfus des Kampfes wäre (denn ihm geht es angeblich und wahrscheinlich erträglich, in jenem Aufsatz stand, dass er Arbeit hat, schon die siebente Kopie einer Statuette "Der Blinde" ist bestellt worden, unbekannt ist er ja auch nicht, in jenem Aufsatz - der sich im allgemeinen mit den staatlichen Aufwendungen für Kunst beschäftigte - war er sogar "velikán"* genannt, Originalität würde nicht den Wert des Kampfes für ihn ausmachen, würde nicht den Wert des Kampfes hinunterdrücken), sondern die plastische Kunst selbst und das Augenglück der Menschen. Wobei ich freilich immer nur an den Koliner Hus denke (nicht eigentlich so sehr an die Statue in der Modernen Galerie und das Grabmal auf dem Vyšehrader Friedhof und immerhin noch mehr an diese als an die in der Erinnerung mir verschwimmende Menge nicht leicht zugänglicher Kleinarbeit in Holz und Graphik, die man früher von ihm sah), wie man aus der Seitengasse hervorkommt und den großen Platz mit den kleinen Randhäuschen vor sich liegen sieht und in der Mitte den Hus, alles, immer, im Schnee und im Sommer, von einer atemraubenden, unbegreiflichen, daher willkürlich scheinenden und in jedem Augenblick wieder von dieser mächtigen Hand neu erzwungenen, den Beschauer selbst einschließenden Einheit. Etwas ähnliches erreicht vielleicht durch den Segen des Zeitablaufs das Weimarer Goethehaus, aber für den Schöpfer dessen kann man nur schwer kämpfen und die Tür seines Hauses ist immer geschlossen.

    Sehr interessant müßte aber sein zu erfahren, wie es zu der Aufstellung des Husdenkmals kam; soweit ich mich aus den Erzählungen meines verstorbenen Kousins erinnere, war die ganze Stadtvertretung schon vor der Aufstellung dagegen und nachher noch viel mehr und wohl bis heute.

Die Novelle: schade, dass ich die endgiltige Fassung nicht erfahren kann.

Lieschen ist freilich viel verständlicher als M. Daß so etwa die Mädchen sind, haben wir in der Schule gelernt, freilich haben wir auch nicht gelernt, dass sie zu lieben und auf diese Weise unverständlich zu machen sind.

    Felix: unwahrscheinlich der Zauber-Psychiater, aber F. würde freilich das Unwahrscheinlich-Schönste verdienen. - Warum sollte er den "Juden" nicht übernehmen können, das wäre doch außerordentlich schön, und wenns nicht ginge, außerordentlich traurig. Freilich trägt es augenblicklich weniger als die "Selbstwehr", aber doch so viel, dass er vielleicht auskommen könnte (wobei ich voraussetze, dass der Jude, wenn er von Heppenheim redigiert werden konnte, auch von Prag redigiert werden kann) und die Stellung wäre repräsentativ und würde ihm doch viel weniger Arbeit geben als die Selbstwehr. Freilich, die schöne Selbstwehr wäre in Gefahr, das merkt man an der Epsteinschen Zwischenzeit, aus der man nur etwa solche Dinge in Erinnerung behalten wird: "Der russische Chaluz tritt auf den Plan", die Selbstwehr kann nicht nebenbei, muß so aufopfernd gemacht werden, wie Felix es tut.-Was mich betrifft, ist es leider nur Spaß oder Halbschlaf-Einfall, bei der Vakanz des "Juden" an mich zu denken. Wie dürfte ich bei meiner grenzenlosen Unkenntnis der Dinge, völligen Beziehungslosigkeit zu Menschen, bei dem Mangel jedes festen jüdischen Bodens unter den Füßen an etwas derartiges denken? Nein, nein.

    Hauptmann: Der Aufsatz im Abendblatt war ungemein schön und auf den Rundschauaufsatz freue ich mich sehr. Nur weiß ich nicht, wie Du, außer mit dem unkontrollierbaren Recht der Liebe, Jorinde und Anna (nach Deiner Nacherzählung) in Beziehung setzen kannst. Jorinde ist ganz anders, gleichzeitig verständlicher und geheimnisvoller als Anna. Anna hat den eindeutigen Fall getan, die Beweggründe sind rätselhaft, der Fall ist unzweifelhaft. Ihr größtes Geheimnis ist das Selbstgericht und die Selbstbestrafung, ein Geheimnis, das sie mir gewissermaßen verständlicher macht als Jorinde, nicht etwa kraft meiner Fähigkeiten, aber kraft meiner Forderung. Jorinde dagegen hat ja gar nichts Böses getan, hätte sie es getan, würde sie es ja ihrer Art nach ebenso gestehn wie Anna, aber da sie nichts zu gestehn hat, kann sie nichts gestehn, wobei freilich ihrem Wesen nach - was man aber vielleicht bei Anna vor dem Fall auch hätte sagen können - es unmöglich scheint, dass sie mit Überzeugung von sich sagt: "Ich habe Unrecht getan". Darin liegt vielleicht ihr Rätsel, das aber gewissermaßen sich nicht entfalten kann, denn sie hat ja nichts Böses getan. Fast kommt man auf diesem Wege dazu, aktuell rätselhaft nur ihren Geliebten zu finden, der seine Schwäche - die unleugbar da ist und darin besteht, dass er den Verkehr mit dem Mechaniker nicht beenden kann, was nicht nur eine augenblickliche Schwäche ist, sondern Voraussicht weiterer Schwäche, dass er nämlich, wenn er diesen Verkehr doch beenden könnte, für einen neuen, ihn ebenso störenden, Platz schaffen würde - bis zur Verfinsterung der ganzen Welt übertreibt. Ihn stört fast ebenso wie der Mechaniker die Unschuld Jorindes und Unschuld heißt hier Unzugänglichkeit. Er ist, wie Du es übrigens gewiß auch gesagt hast, förmlich auf der Jagd nach etwas, was Jorinte nicht besitzt, zu dem sie vielmehr nur die versperrte Tür darstellt, und wenn er an ihr rüttelt, so tut er ihr auch sehr weh, denn sie kann doch nicht geben, was sie nicht besitzt, er aber freilich kann nicht nachlassen, denn er will das, was sie versperrt und von dem sie selbst gar nichts weiß und auch von niemandem, auch von ihm nicht, bei größter Anstrengung und Belehrung etwas erfahren könnte.

    Nach Misdroy werde ich Dir wohl schreiben, aber an E. nicht, es wäre Komödie und würde auch von ihr so angesehen werden. Dagegen werde ich, wenn ich schreibe, Dir schreiben, so dass Du den Brief zeigen kannst, und das wird gar keine Komödie sein. Übrigens geht jetzt die Post nach Deutschland sehr langsam.

Leb wohl!

F         


Schreib mir bitte von Berlin und auch von Misdroy je eine Karte.


Der Fall Bilek ist merkwürdiger als der Fall Janáček erstens war damals noch Österreich, die böhmischen Verhältnisse gedrückt, und zweitens war ja Janáček wirklich, wenigstens in Böhmen, gänzlich unbekannt, Bilek aber ist sehr bekannt, sehr geschätzt und hunderttausende sehn ihn, wie er zwischen den zehn Bäumen seines verstaubten Villengartens abends spazieren geht.


* großer Mann



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


vor der Reise: Brods Reise nach Berlin und Misdroy.


in jenem Aufsatz: Siehe Anm. 55 oben.


Statue: Vermutlich "Golgatha".


Grabmal: Des Geschichtserzählers Václav Beneš Třebízský (1849-1884).


Kousins: Dr. Robert Kafka (1881-1922), Sohn von Kafkas Onkel Filip. Vgl. FK 180.


Heppenheim: Martin Buben der Herausgeber der Zeitschrift Der Jude, lebte in Heppenheim an der Bergstraße.


der Epsteinschen Zwischenzeit: Felix Weltsch hatte sich als Redakteur der Selbstwehr vorübergehend durch Oskar Epstein (1888-1940) vertreten lassen. Vgl. SL 50.


"Der russische ... Plan": Die Überschrift über einem Korrespondentenbericht in der Selbstwehr vom 21. Juli 1922. Kafka will hiermit zum Ausdruck bringen, dass Epstein als Redakteur kaum etwas Ernsthaftes geleistet hatte (siehe BiS 297).


Vakanz des "Juden": Siehe Brods Brief vom 6. August 1922 und Anm. 60 oben.


Der Aufsatz . . . Rundchauaufsatz: Zu diesen beiden Aufsätzen siehe Anm. 47 bzw. Anm. 61 oben.


Jorinde und Anna: Die Hauptfiguren in Brods Leben mit einer Göttin und Hauptmanns Anna.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at