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Max Brod an Franz Kafka

[Prag, 6.8.1922 ]


Lieber Franz -

Dank für deinen Brief. Ich beantworte ihn heute, Sonntag -der Brief ist oben im Büro - vielleicht beantworte ich also nicht alle deine Fragen. Ich will es versuchen. Bílek: die Villa ist geschlossen. Nach den Ferien versuche ich's. Meine Novelle: wird heute revidien. Lieschen: ja, ihr Brief war ebenso hübsch, acht Seiten lang, nur sehr traurig, während der vorige so lustig schien. Sogar Selbstmord taucht auf. Nur ihr "starker Glauben" hält sie ab. Aas Trauer hat sie mir auch nicht früher geantwortet. Es scheint ihre alte Liebesgeschichte mit dem hochstaplerischen Dichter zu sein. - Felix: war neulich in Prag, um mit mir zu beraten, ob er die Redaktion des "Juden" annehmen soll, von der Buber sich zurückziehen will (diskret zu behandeln!). Ich hielt es für unmöglich, aus sachlichen u. finanziellen Gründen (3000 M monatlich), dass Felix annimmt. Im Gespräch verfielen wir auch auf dich. Aber ich glaube, dass das auch für dich nichts Passendes wäre, obwohl eine literarische Beschäftigung dir vielleicht gelegen käme, - diese aber erfordert wohl sehr viel Zeit und Mühe. Wir können ja noch davon reden. So schnell wird die Sache nicht aktuell. - Felix arbeitet und hat bez. seiner Frau nicht unbegründete Hoffnungen, die ihm ein Psychiater in Schelesen gemacht hat. Es handelt sich um die Möglichkeit einer Behandlung dieses nach Ansicht des Psychiaters für jüdische Ehen durchaus typischen Falles. Da wäre also ein Ausblick. Hauptmann-Essai: richtig geraten. Ich habe über H. Beziehung zu den Frauen geschrieben. Unter dem Titel "G. Hauptur. -Frauenlob". Es ist eigentlich eine Fortsetzung meiner Novelle - wie vielleicht alles, was ich von nun ab Pardon: ich muß deiner Augen wegen größer schreiben -- also Fortsetzung: schreiben werde, zumindest wie alles, was mir durch den Kopf geht Tag und Nacht mit ermüdender Einfärbigkeit. Der Essai ist gestern beendet. Die Arbeit hat mich betäubt, aber nicht beglückt.

    Denn mir geht es nicht gut. Die Krise zwar ist im nächsten Brief weggeblasen gewesen, volles Einverständnis mit Miez (im vorigen Brief "Miez ist der leibhaftige Teufel"), die auch nach Misdroy kommen wird ca. 15. August. Doch sofort ist in demselben Brief wieder Herr W. aufgetaucht. Die Stelle, aus dem Gedächtnis zitiert, lautet etwa: "Ich bemühe mich, all das Elende zu vergessen. Es geht mir leidlich. Ich war jetzt zwei Tage in Dürrenberg. Ohne diese netten Leute wäre ich wohl nicht mehr am Leben. Wie danke ich dir, Max, für deine große Liebe und Güte. Auf frohes Wiedersehen in Berlin. Aber ich wäre dir für getrennte Zimmer sehr dankbar. Diese Frau? Doktor? zerreißt mein Innerstes u.s.f."

    An diesem Text arbeite ich nun schon tagelang. Es ist keine akute Aufregung wie sonst - sondern Krise zweiten Grades: gleichmäßige Trauer. Aus Trauer wache ich in der Nacht auf, habe heute im Schlaf geweint. -Ich will dich nicht mit allem, was mir durch den Kopf geht, behelligen, denn dabei ist so viel Unwahrscheinliches - und noch das Unwahrscheinlichste löst Furcht und Schrecken aus und will widerlegt sein. - Was mir aber sicher scheint, ist eben doch, dass dieser W in irgendeiner Zukunft siegen wird, weil ich das nicht bieten kann, was er bietet. Er: die Ehe - ich: nicht getrennte Zimmer und einen Titel, aus dem M. die Fragezeichen förmlich hervordröhnen hört. Zwar dann nicht, wenn ich mit ihr längere Zeit beisammen bin, dann ist alles schön und gut,-wohl aber bei längerer Abwesenheit, in der ich verblasse und der tägliche Verkehr mit einem jungen Bräutigam Übergewicht bekommen muß. Um diese Tatsache des NichtHeiraten-Könnens ist ja meine Position dem "Ich" der Novelle gegenüber im ungeheuersten Nachteil.

    Während ich dies schreibe, Sonntag, ist M. wahrscheinlich (?) wieder in Dürrenberg (ich ahne es), - wird von "diesen netten Leuten" mit allem Zauber bürgerlicher Ehrbarkeit und des durch meine Bemühungen erhöhten Standes umgeben. Ich weiß nicht genau, wer diese "netten Leute" sind, - offenbar er, seine Eltern, Freunde und Geschwister, wahrscheinlich auch noch die frühere Wirtin, wo M. im Frühling gewohnt hat. Ob sie diesmal dort gewohnt hat oder (meiner Novelle gemäß) bei seinen Eltern, weiß ich nicht. - Auf meiner Seite dagegen: der Familienklatsch gegen den "reichen Juden, mit dem sie ein Verhältnis hat". Auch von diesem Klatsch weiß ich noch nicht den eigentlichen Kern. - Ich erfahre nichts. Ich muß in wahnsinniger Sehnsucht acht Wochen ohne sie leben. Der andere sieht sie täglich. Hat er Universitätsferien, so besucht sie ihn. Und ich arbeite, um ihr - das Reisegeld nach D. senden zu können.

    Ich bin nicht so sehr wegen der nächsten als wegen der entfernteren Zukunft traurig. Diese ganze Beziehung fieng so wohltätig für mich an. Ich blühte auf. Es war die einzige Zeit meines Lebens, in der ich zu fühlen bekam, dass dem Wort "Glück" eine wirkliche Stimmung entspricht. -Und nun scheint mir alles unrettbar verloren. - Gut, ich nehme mir vor, jeden Streit zu vermeiden, keinen Moment lang zu vergessen, dass ich nur mit äußerster Selbstbeherrschung diese Partie (in Berlin und Misdroy) spielen kann. Aber abgesehen davon, dass es doch "Ferien" für mich sein sollen, nicht Tage angespanntester Willens- und Geistestätigkeit: wie wird es im Herbst, im Winter sein? - [am Rand geschrieben: Antwort: man darf eben keine Angst haben, das ist die einzige Lebensregel!] Es ist eine müßige Frage, ich weiß wohl, - es ist genug, heute und morgen zu leben. Nur dass eben gerade der ungetrübte Aspekt auf viele, vielleicht auf alle Jahre mit M. mit zu meinem Glück gehörte. - Ich will die Möglichkeit nicht ausschließen, dass der Student als Ehekandidat gar nicht in Betracht kommt (er ist jünger als sie, um 6 Jahre wohl), - schließlich denkt ja (vorläufig wenigstens) M. an eine Bühnenzukunft, - vielleicht kann ich sie diesmal auch wieder für mich gewinnen wie zu Pfingsten oder wie im Vorjahr in Dahme. Da ich schon in den Gegenargumenten gegen meine Trauer stecke, habe ich noch einige anzuführen: sie ahnt nicht, wie ihr letzter Brief mich verletzt - alle ihre letzten Briefe vor jedem Zusammensein waren so ähnlich - sie ist nach D. gefahren, da sie einsam mit diesem Klatsch zu sehr belastet war - ihr Wunsch nach getrennten Zimmern tauchte seit jeher periodisch auf, besonders aber nach solchen Klatschereien ist er zu verstehen u.s.f.

    Das alles aber ist nur noch Konstruktion, - nicht mehr Glück. - Ich habe den Eindruck, dass ich mich energisch werde herausreißen müssen. Vielleicht hilft mir jemand (ein Mädchen) von ihr weg, wie sie mich von Frl. O. befreit hat. - Aber der Gedanke, von ihr weggehen zu müssen, ist es ja, was mich traurig macht. --Ich sehe den "Ferien" mit Bangen entgegen. Wenn es gut wird, schicke ich dir von Berlin aus eine Karte. Donnerstag fahre ich. Schreibe mir, wenn du Lust dazu hast, nach Misdroy postlagernd unter meinem richtigen Namen. (Meine Briefe hebst du doch wohl gut verschlossen auf? oder noch besser: gleich zerreißen!) -Bitte, lege ein Blatt für Emmy bei, wenn du mir schreibst. In dem Sinne etwa, dass du ihr gute Erholung wünschest - aber auch mir - dass ich wahnsinnig gelitten habe unter der Unregelmäßigkeit ihrer Korrespondenz und dass sie das nicht so leicht nehmen soll, weil es meine Arbeitskraft vernichtet - und dass sie mir in den Ferien etwaige Nervositäten verzeihen soll, weil ich eigentlich, ohne äußerliche Kennzeichen, ein Kranker bin. u.s.f. - Nun habe ich dies an dich fast so geschrieben, als seist du ein göttliches Wesen und könntest mir das verschaffen, was ich so dringend brauche.

Max         


Dein liebenswürdiger Schwager Dr Dawid führte mich neulich zu Dr Spacek, Abgeordneten. Was ich mir da für Sottisen über die Juden anhören mußte! - Gequält dachte ich: und auf der andern Seite schimpft M. gegen uns. Auch Stoff genug für eine schlechte Nacht. - In der Sache selbst übrigens war der Abgeordnete gefällig und ich rechne auf einen Erfolg der Intervention.

    dass du doch so nett über das Kind deiner Schwester schreiben kannst, gibt mir Mut - bezüglich deiner Zukunft. Ich kann das nur so unklar ausdrücken.

    Welche Ironie: ich, der ich selbst kein Kind habe, am Ostseestrand mit einem fünfjährigen Antisemitensproß. Mieze bringt ihr Kind Hans Joachim mit, auf meine ausdrückliche Einladung.

    Seit meine Frau zurück ist, geht es mir besser. Sie ist so lieb und hübsch, erheitert, lenkt ab.

    Dies schrieb ich Sonntag früh. -Nun, Sonntag Mittag, nach ganz guter Arbeit (nochmals den Essai über H. nachgesehen) lese ich nochmals diesen Brief, finde das Gejammer übertrieben. Liebte sie mich nicht, wäre es ihr mit W. Ernst, so würde sie nicht mit mir nach Berlin und Misdroy fahren; dazu ist sie doch viel zu schlicht und anständig, so weit ich sie kenne.

    Also habe keine Sorge um mich, bitte!

    "Komme, was kommen mag,

    Zeit läuft und Stunde durch den trübsten Tag."



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Redaktion des "Juden": Nachdem Martin Buber bekanntgemacht hatte, dass er als Herausgeber des Juden im Oktober 1922 zurücktreten wollte, bekam er verschiedene Anregungen. In einem Brief vom 3. Juli 1922 schrieb ihm Ernst Simon: "Hoffentlich finden Sie einen Nachfolger, dessen zionistische Einstellung sich mit genügendem Blick auf die Weite des jüdischen Lebens und die abgründige Tiefe der jüdischen Frage verbindet. [Arnold] Zweig und Brod, die mir gestern Rosenzweig nannte, haben ja jeder etwas von diesen Bedingungen" (BB II 102). Hans Kohn teilte ihm am 12. Juli seine Meinung mit, "dass nur Robert [Weltsch] oder ich den Juden völlig in unserer Linie weiterführen können" (BB II 103); auf Bubers (nicht erhaltenen) Antwortbrief reagierte Kohn dann am 20. Juli mit dem Vorschlag: "treten Sie an die Spitze eines Redaktionskollegiums, das meinetwegen aus Robert [Weltsch], Felix [Weltsch] und mir bestehen kann" (BB II 106). Siehe Kafkas Brief vom 30. Juli 1922.


"G. Hauptm. - Frauenlob": Gemeint ist offenbar sein Aufsatz, der unter dem Titel "Gerhart Hauptmanns Frauengestalten" in der Neuen Rundschau (Novemberheft 1922) erschien.


Dr Dawid: Kafkas Schwager Josef David.


"Komme . . . Tag": Shakespeares Macbeth, Akt I, 3. Szene. 64] vor der Reise: Brods Reise nach Berlin und Misdroy.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at