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[Planá, 30.7.22. Ankunftstempel: Praha-Hrad, 31.7.22]

[An:] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante

[Abs.:] Dr Kafka n pí Hniličkové Planá nad Lužnici


Liebster Max, schon viertel zehn abend, fast zu spät zum Schreiben, aber der Tag ist zum Teil infolge der Kinder, weil nur die von ihnen gelassenen Pausen brauchbarer Tag sind, zum Teil infolge der Schwäche und Nachlässigkeit oft zu kurz, Ottla sagt mit Bezug darauf, dass ich mich noch zum zweitenmal werde pensionieren lassen müssen.

    Aber das sind Kleinigkeiten. Wie bist Du aber geplagt. Was für eine große, durch nichts zu verwirrende, nicht einmal durch die Novelle zu besänftigende Phantasie arbeitet gegen Dich. Den "Familienrate, den Du ja auch widerrufst, verstehe ich allerdings nicht ganz. E's Verhältnis zu Dir ist doch keine Neuigkeit in der Familie, die 3 Schwestern und der Schwager sind doch mit oder gegen ihren Willen gewonnen, es bliebe also nur der Vater und wohl Bruder, von der Ferne sieht es allerdings, soweit Deine Erzählungen mich belehrt haben, nur wie eine kleine, kaum sehr erfolgreiche Intrigue der Leipziger Schwester aus, die ich mir in dieser Hinsicht sehr tätig vorstelle.

    Den Brief der Berlinerin hätte ich gern gelesen, nun siehst Du, sie hat doch geantwortet. Wieder so gesprächig und vertrauend und zu weiterem Schreiben verlockend wie letzthin? Der Hechte korrekte Mensch" ist einerseits ein vorahnendes Zitat aus der Novelle, andererseits aber eine Einladung, sich ihn wirklich anzusehn; eine Spur Selbstquälerei, abgesehn natürlich von verständlicher Angst - Du hast Dir ihn so hoch aufgebaut, höher als den Bergmenschen der Novelle - hindert Dich daran.

    Ich weiß nicht genau, ob Du meinen letzten Brief bekommen hast. Du erwähnst die Novelle gar nicht - für deren Bruchstück in der Zeitung ich Dir sehr danke, auch für die Paraphrasen, es würde mich, ohne dass ich jetzt eine genaue Vorstellung davon hätte, wie dies zu tun wäre, locken, einen Kommentar zur Novelle einmal zu schreiben. - Mörike nicht - letzthin blätterte ich bei Andre in einer Literaturgeschichte der letzten Zeit Verlag Diederichs, (von Otto von der Leyen oder ähnlich), gemäßigte deutsche Stellung, der Hochmutston darin scheint persönliches Eigentum des Verfassers zu sein, nicht seiner Stellung anzugehören.

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¾8 früh, die Kinder * sind schon da, nach einem erstaunlich guten Tag, dem gestrigen, sind sie schon so bald hier, nur zwei erst und ein Kinderleiterwagen, aber es ist genug. Sie sind mein "Familienrat"; wenn ich - schon aus der Mitte des Zimmers sehe ich sie - feststelle, dass sie da sind, ist mir, als hebe ich einen Stein und sehe dort das Selbstverständliche, Erwartete und doch Gefürchtete, die Asseln und das ganze Volk der Nacht, es ist aber sichtlich eine Übertragung, nicht die Kinder sind die Nächtlichen, vielmehr heben sie in ihrem Spiel den Stein von meinem Kopf und "gönnen" auch mir einen Blick hinein. Wie überhaupt weder sie noch der Familienrat das Schlimmste sind, beide sind wohl eingespannt ins Dasein; das Schlimme, woran sie unschuldig sind und was sie eher geliebt als gefürchtet machen sollte, ist, dass sie die letzte Station des Daseins sind. Hinter ihnen beginnt, ob sie nun durch ihren Lärm scheinbar schrecken oder durch ihre Stille scheinbar beglücken, das von Othello angekündigte Chaos. Hier sind wir von einer andern Seite her bei der Schriftstellerfrage. Es ist vielleicht möglich, ich weiß es nicht, dass ein das Chaos beherrschender Mann zu schreiben beginnt; das werden heilige Bücher sein; oder dass er liebt; das wird Liebe sein, nicht Angst vor dem Chaos. Lieschen ist im Irrtum, allerdings nur im terminologischen: erst in der geordneten Welt beginnt der Dichter. Deutet das Lesen der "Anna", die zu lesen ich mich übrigens schon lange freue, darauf hin, dass Du doch etwas über Hauptmann geschrieben hast? - Nun solltest Du aber auch die "Osterfeier" lesen, vielleicht auf der Reise?

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    zu der Literaturgeschichte: ich hatte nur eine Minute Zeit in ihr zu blättern, es wäre interessant, sie genauer zu lesen, sie scheint eine Begleitmusik zur Secessio judaica und es ist erstaunlich, wie innerhalb einer Minute einem allerdings sehr günstig voreingenommenem Leser mit Hilfe des Buches die Dinge schön sich ordnen, etwa die Menge halb bekannter, gewiß ehrlicher, dichterischer Männer, die in einem Kapitel "Unser Land" auftauchen, nach Landschaften geordnet, deutsches Gut, jedem jüdischen Zugriff unzugänglich, und wenn Wassermann Tag für Tag um 4 Uhr morgens aufsteht und sein Leben lang die Nürnberger Gegend von einem Ende zum andern durchpflügt, sie wird ihm nicht antworten, schöne Zuflüsterungen aus der Luft wird er für ihr. Antwort nehmen müssen. Es ist kein Namensverzeichnis in dem Buch, deshalb wohl habe ich Dich nur einmal, nicht unfreundlich, erwähnt gefunden; ich glaube, es war ein Vergleich eines Romanes von Löns und des Tycho; Tycho wurde mit aller Achtung verdächtig dialektisch gefunden. Ich bin sogar gelobt, allerdings nur halb, als Franz Koffka (offenbar Friedrich Koffka), der ein schönes Drama geschrieben haben soll.

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    Auch Bilek erwähnst Du nicht, gern würde ich ihn in Deinen Arm betten. Ich denke seit jeher an ihn mit großer Bewunderung. Zuletzt hat mich freilich, wie ich gestehen muß, erst wieder eine Bemerkung in einem mit andern Dingen sich beschäftigenden Feuilleton in der "Tribuna" (von Chalupný glaube ich) an ihn erinnert. Wenn es möglich wäre, diese Schande und mutwillig-sinnlose Verarmung Prags und Böhmens zu beseitigen, dass mittelmäßige Arbeiten wie der Hus von Šaloun oder miserable wie der Palacký von Sucharda ehrenvoll aufgestellt werden, dagegen zweifellos unvergleichliche Entwürfe Bileks zu einem Žižka- oder Komenskýdenkmal unausgeführt bleiben, wäre viel getan und ein Regierungsblatt wäre der richtige Ansatzpunkt. Ob freilich jüdische Hände die richtigen sind, das auszuführen das weiß ich nicht, aber ich weiß keine andern Hände, die das könnten, und Deinen traue ich alles zu.

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    Deine Bemerkungen zum Roman beschämen und freuen mich, so wie ich etwa Věra erfreue und beschäme, wenn sie, was häufig genug geschieht, in ihrem torkelnden Gang sich unversehens auf ihren kleinen Hintern setzt und ich sage: "Je ta Věra ale šikovná"*. Nun weiß sie zwar unwiderleglich, denn sie spürt es hinten, dass sie sich unglücklich gesetzt hat, aber mein Zuruf hat solche Gewalt über sie, dass sie glücklich zu lachen anfängt und überzeugt ist, das Kunststück wahren Sich-Setzens soeben ausgeführt zu haben.

    Die Mitteilung des Herrn Weltsch dagegen ist wenig zwingend, er ist eben a priori überzeugt, dass man den eigenen Sohn nicht anders als loben und lieben kann. In diesem Fall aber: was wären hier für Begründungen des Augenleuchtens. Ein heiratsunfähiger, keine Träger des Namens beibringender Sohn; pensioniert mit 39 Jahren; nur mit dem exzentrischen, auf nichts anderes als das eigene Seelenheil oder Unheil abzielenden Schreiben beschäftigt; lieblos; fremd dem Glauben, nicht einmal das Gebet für das Seelenheil ist von ihm zu erwarten; lungenkrank, hat sich die Krankheit überdies nach des Vaters äußerlich ganz richtiger Ansicht geholt, als er zum erstenmal für einige Zeit aus der Kinderstube entlassen, sich, zu jeder Selbständigkeit unfähig, das ungesunde Schönbornzimmer ausgesucht hatte. Das ist der Sohn zum Schwärmen

F         


Was macht Felix? Mir hat er nicht mehr geantwortet.


* "Ist die Věra aber geschickt."



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Bruchstück in der Zeitung: Mit einem kurzen Exzerpt aus seinem "Leben mit einer Göttin" hatte Brod seinen Artikel "Gerhart Hauptmanns Frauentypus. (Bemerkungen zu seinem neuesten Werk "Anna".)" eingeleitet, der am 27. Juli 1922 im Prager Abendblatt erschien (wiederabgedruckt in: Max Brod, Sternenhimmel Musik- und Theatererlebnisse, Prag: Orbis/München: Kurt Wolff 1923, 5.246-250).


Mörike nicht: Bezieht sich auf die Anekdote aus Storms Erinnerungen in Kafkas Brief vom 20. Juli 1922.


Litteraturgeschichte: Friedrich von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit, Jena: Diederichs 1922.


Chaos: Kafka bezieht sich offenbar auf Brods Artikel "Meditation über Eifersucht. (Anläßlich einer Othello-Aufführung im Stadttheater Kgl.Weinberge)". Prager Abendblatt, 22. Juli 1922. Dort zitiert Brod: "Und wenn ich dich nicht liebe, dann kehrt das Chaos wieder" (Othello, Akt III, 3. Szene).


"Osterfeier": Max Mell, Die Osterfeier. Eine Novelle in Versen, München: Musarion 1921.


secessio judaica: Hans Blühen Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung, Berlin: Der Weiße Ritter-Verlag 1922.


Wassermann: Jakob Wassermann (1873-1934). Siehe Anm.75 unten.


Friedrich Koffka: Dramatiker (1888-1951). Eine Aufführungseines Stücks Kain - am 20. April 1920 in München - hatte zum Mißerfolg von Brods Die Höhe des Gefühls am gleichen Abend beigetragen (siehe 1920 Anm.10).


Feuilleton ... Chalupný: E.Chalupný, "Stát a literatura" ["Staat und Literatur"], Tribuna, iv. Jg., Nr. 147 (22. Juni 1922) und Nr. 158 (9. Juli 1922). In dem zweiten Teil des Aufsatzes ist vom Bildhauer Bílek die Rede.


Šaloun: Ladislav Šaloun (1870-1946), der 1915 das Hus-Denkmal am Altstädterring in Prag geschaffen hatte.


Sucharda: Der Bildhauer Stanislav Sucharda (1886-1916). 396


Věra: Siehe 1921 Anm.41.


Schönbornzimmer: Das Zimmer im Schönbornpalais, Marktplatz 15, unterhalb der Hradschin, wo sich 1917 der Beginn der Lungentuberkulose ankündigte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at