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[Stempel: Planá nad Lužnici, 20.7.22; Ankunftstempel: Praha-Hrad, 21.7.22]

[An:] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante

[Abs.:] Dr Kafka n pí Hniličkové Planá nad Lužnici

Liebster Max, ich hatte gestern vormittag keine Zeit mehr zu Dir zu kommen und es war schon notwendig für mich wegzukommen, des unregelmäßigen Lebens war übergenug (für das regelmäßige Leben ist allerdings Planá weniger geeignet als Prag, aber nur wegen des Lärms, sonst keineswegs, ich muß das immer wiederholen, damit es mir "oben" nicht abgestritten wird), trotzdem wäre ich vielleicht doch geblieben, wenn ich gesehen hätte, dass der Vater mich irgendwie nur benötigt. Das war aber gestern gar nicht der Fall. Seine Zuneigung zu mir hat Tag für Tag (nein, am zweiten Tag war sie am größten, dann hat sie immerfort) abgenommen und gestern konnte er mich nicht schnell genug aus dem Zimmer bekommen, während er die Mutter zum Dableiben zwang. Für die Mutter beginnt jetzt übrigens eine besondere, neue, aufreibende Leidenszeit, auch wenn sich alles so schön weiterentwickelt wie bisher. Denn während der Vater bisher, unter dein Druck der schrecklichen Erinnerungen, das Daliegen im Bett immerhin noch als Wohltat empfand, fängt für ihn die große Qual des Liegens [jetzt an] (er hat eine Narbe auf dem Rücken, die ihm seit jeher langes Liegen fast unmöglich gemacht hat, dazu kommt die Schwierigkeit jeder Lageveränderung des schweren Körpers, das unruhige Herz, der große Verband; die Wundschmerzen beim Husten, vor allem aber sein unruhiger, aus sich selbst hilfloser, verfinsterter Geist), eine Qual, die meiner Meinung nach alles Vorhergehende übertrifft, diese Qual schlägt nun schon bei gebessertem Gesamtbefinden nach außen, gestern machte er schon hinter der hinausgehenden, wie ich glaube, wunderbaren Schwester eine Handbewegung, die in seiner Sprache nur "Vieh!" bedeuten konnte. Und diese seine Lage, die in ihrer ganzen kahlen Schrecklichkeit vielleicht nur mir ganz verständlich ist, wird nun günstigstenfalls noch zehn Tage dauern, und was davon auf die Mutter abwälzbar ist, wird voll und reichlich abgewälzt werden. Zehn solche Tag- und Nachtwachen, wie sie jetzt der Mutter bevorstehnt!

    Ich hatte also keine Zeit zu Dir zu kommen, aber ich wäre wahrscheinlich auch nicht gekommen, wenn ich Zeit gehabt hätte, allzusehr hätte ich mich geschämt für den Fall, dass Du mein Heft schon gelesen haben solltest, dieses Heft, das ich Dir nach Deiner Novelle zu geben gewagt hatte, obwohl ich weiß, dass es doch nur da ist zum Geschrieben-, nicht zum Gelesenwerden. Nach dieser Novelle, die so vollkommen, so rein, so geradegewachsen, so jung ist, ein Opfer, dessen Rauch oben wohlgefällig sein maß. Nur weil sie mir so teuer ist, bitte ich Dich, den Anfang, nicht nur den allerersten, sondern bis zur Professorsfamilie und dann den allerletzten Schluß noch einmal durchzusehn. Der Anfang irrt, wenigstens für den, der das Ganze nicht kennt, ein wenig umher, so als suchte er die zur Erholung angenehmen, das Ganze aber schädigenden Nebenerfindungen, die ja wirklich im Ganzen völlig abgewehrt sind, in jenem Anfang aber ein wenig wetterleuchten. Der Schluß aber atmet zu lange aus, während der Leser, der noch mit dem Atem kämpft, dadurch verwirrt die Blickrichtung ein wenig verliert. Mit dem sage ich aber nichts gegen die Briefform, die mich schon überzeugt hat.

    Ich weiß ganz und gar nicht, wie sich diese Novelle in meine Ansicht vom "Schriftsteller" einfügt, mache mir darüber keine Sorgen und bin glücklich darüber, dass die Novelle vorhanden ist. Aber gute Nahrung hat gestern meine Ansicht bekommen, als ich auf der Fahrt ein Reclambändchen "Storm: Erinnerungen" las. Ein Besuch bei Mörike. Diese beiden guten Deutschen sitzen im Frieden dort beisammen in Stuttgart, unterhalten sich über deutsche Literatur, Mörike liest "Mozart auf der Reise nach Prag" vor (Hartlaub, Mörikes Freund, der die Novelle schon sehr gut kennt, "folgte der Vorlesung mit einer verehrenden Begeisterung, die er augenscheinlich kaum zurückzuhalten vermochte. Als eine Pause eintrat, rief er mir zu: "Aber, i bitt Sie, ist das nun zum Aushalte". - Es ist 1855, es sind schon alternde Männer, Hartlaub ist Pfarrer), und dann sprechen sie auch über Heine. Über Heine ist schon in diesen Erinnerungen gesagt, dass für Storm die Pforten der deutschen Literatur durch Goethes Faust und Heines Buch der Lieder, diese beiden Zauberbücher, aufgesprungen sind. Und auch für Mörike hat Heine große Bedeutung, dehn unter den wenigen, ihm sehr teueren Autogrammen, die Mörike besitzt und Storm zeigt, ist auch "ein sehr durchkorrigiertes Gedicht von Heine." Trotzdem sagt Mörike über Heine - und es ist, obwohl es hier wohl nur Wiedergabe einer rundläufigen Ansicht ist, zumindest von einer Seite her eine blendende und noch immer geheimnisvolle Zusammenfassung dessen, was ich vom Schriftsteller denke und auch was ich denke, ist in einem andern Sinn landläufige Ansicht: "Er ist ein Dichter ganz und gar" sagte Mörike "aber nit eine Viertelstand 'könnt' ich mit ihm leben, wegender Lüge seines ganzen Wesens." Den Talmudkommentar dazuher!

Dein         


Du sagtest, Du wärest in Not wegen des Materials für das Abendblatt. Ich wußte etwas, was sich hoch lohnen würde: Für den Bildhauer Bilek schreiben. Darüber nächstens. Das Husdenkmal in Kolin kennst Du doch? Hat es auf Dich auch einen so ausschließlichen großen Eindruck gemacht



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


wegzukommen: Kafka war vom 14. bis zum 19. Juli nach Prag gekommen, weil sein Vater operiert werden mußte.


mein Heft: Das zweite Manuskriptheft des "Schloß"-Romans (siehe 389 KKAS Apparatband 38-42).


Deiner Novelle: "Leben mit einer Göttin". Siehe Anm.11 oben.


in diesen Erinnerungen: Theodor Storm, "Meine Erinnerungen an Eduard Mörike", Gesammelte Schriften, Erste Gesammtausgabe, Bd. 8, Braunschweig: G. Westermann 1877.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at